Wie der alte Christian Weihnachten feierte ( 1 )
"Kind," sagte am Vortage des Weihnachtsfestes meine gute Mutter zu
mir, "Kind, geh, bring' dem alten Christian seine Kuchenstolle und dieses
Packet. Sag', ich ließ' ihn schön grüßen, und er
möchte das Fest und das neue Jahr gesund und ruhig verleben. Diesmal
wär' zuviel Arbeit, ich könnt' nicht selber abkommen."
Ich blickte etwas erstaunt und beunruhigt von meinem Buche auf. Ich kannte den
mürrischen alten Waldhüter recht gut; wie oft hatte ich mich als
kleines Mädchen vor seinem großen rostigen Schnurrbart
gefürchtet, wenn er uns beim Beerensuchen auf verbotenen Plätzen
überraschte und uns mit seinem Brummbaß aufschreckte und davonjagte.
Jetzt freilich hatten wir ihn nicht mehr zu fürchten, denn er war schon
seit zwei Jahren pensioniert. Nach dem Tode des alten Försters, dem er
sehr ergeben war, hatte auch er um seine Entlassung gebeten. Das Reißen
in den Füßen sei zu arg, meinte er, er könne nicht mehr
stundenlang im Walde umherlaufen; und mein Vater, der Arzt im Städtchen
war, hatte ihm das gewünschte Attest ausgesellt. Seitdem hatten wir einen
neuen Förster und einen neuen Waldhüter, und beide nahmen es nicht so
genau mit uns Kindern. Der alte Christian Merkenthin aber zog zur Witwe Klemm
draußen in der Vorstadt, die dem Walde am nächsten lag, und
ließ sich selten blicken. Zu ihm sollte ich nun gehen.
Meiner Mutter, der meine Unruhe nicht entgangen war, lächelte: "Geh'
nur, Kind, er ist in seiner Stube anders als du ihn sonst kennst, und du bist
schon groß und verständig genug, um deine Freude an dem
prächtigen alten Manne zu haben."
Ich nahm meinen Mut zusammen, als ich die gute Mutter so reden hörte,
klappte mein Buch zu, langte Hut und Mantel vom Riegel und machte mich
gehbereit. "Wenn du dem Christian ein wenig Gesellschaft leisten willst,
kannst du das gerne tun," sagte meine Mutter noch, indem sie mir sogleich
die Pakete in den Arm legte, "um sechseinhalb Uhr wird beschert, da musst
du wieder hier sein."
Ich nickte still, sagte ihr Lebewohl und ging mit leiser Neugier im Herzen und
etwas Bangigkeit die Hauptstraße der Stadt hinunter. Ich beschleunigte
meine Schritte und war bald aus der Häuserreihe heraus.
Die Wiesen, die sich bis zum Waldrande ausbreiteten, lagen im tiefen Schnee,
und auf den kahlen Ästen der Kirschbäume, die die Chaussee
begrenzten, hockten und flatterten Hunderte von Krähen, die wohl vergebens
nach Futter suchten. An den beiden verschneiten Kornmühlen vorbei, die
leise im Winde knarrten, kam ich mit rotgefrorener Nase und steifen Fingern
endlich bei dem Häuschen der Witwe Klemm an, wo mich ein kleiner schwarzer
Spitz mit wütendem Gebell ansprang. Die Frau des Hauses, die auf sein
Kläffen herauskam, rief ihn zurück und maß mit großen
Augen den unerwarteten Besuch. Auf meine Bitte führte sie mich jedoch
bereitwillig die steile Holztreppe hinan auf den kleinen mit frischen Sand
bestreuten Flur, wo sie an einer der Türen klopfte. Ohne lange das Herein
abzuwarten, öffnete sie, steckte den Kopf in die Spalte und meldete:
"Eine kleine Jungfer wünscht Euch zu sprechen, Herr Merkenthin,"
worauf sie die Tür weit aufsperrte und mit einem schnellen neugierigen
Blicke verschwand.
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Paula Dehmel 1862 - 1918
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