Wie der alte Christian Weihnachten feierte ( 6 )
Wir gingen noch etwas tiefer in den Wald und fanden bald an einer ziemlich
versteckten kleinen Lichtung Spuren von Rehwild und einen ähnlichen
Futterplatz wie zuvor. Hier legten wir Korn und Heu nieder und verhielten und
eine Weile mäuschenstill; die kleinen Gäste wollten sich aber nicht
blicken lassen.
"Morgen früh werden sie die Bescherung schon finden,"
schmunzelte der Alte und band noch den Rest unserer Vorräte für die
Vögel in die Bäume.
Es war auch mittlerweile Zeit geworden, an den Heimweg zu denken. Die Sonne war
lange untergegangen, und nur der Schnee leuchtete uns aus dem Dickicht hinaus.
Es war empfindlich kalt geworden, ich schlug den Mantelkragen hoch und steckte
die fast erstarrten Hände in die Ärmel.
"Komm nur, kleine Doktorn," tröstete mich mein Begleiter,
"der Schneiderwirt wohnt nicht weit von hier, der hat einen feinen
Schlitten, und hastenichtgesehn sind wir zu Hause, das wäre doch noch ein
Extra-Weihnachtsspaß, wie?" Und damit zog er mich frierende kleine
Person durch das Gewirr der Stämme auf nur ihm bekannten Pfaden
vorwärts, und bald waren wir auf der Landstraße. Hier
grüßte uns schon von weitem das grüne Licht einer Laterne, die
zum Wirtshaus zum Bären gehörte. Peter Holtzen, ein früherer
Schneider, hauste darin, und man nannte ihn in der ganzen Gegend den
Schneiderwirt. Wir traten mit Behagen in die warme Wirtsstube, und die gute
Mutter Holtzen zog mir gleich die nassen Schuhe und Strümpfe aus und hing
sie über die Messinghaken, die in den riesigen grünen Kachelofen
eingeschraubt waren. Meine nackten Füße steckte sie in warme
Pantoffeln, brachte mir eine Tasse heiße Milch, und nach ein paar Minuten
wusste ich nichts mehr von Frost und Kälte.
Der alte Christian trank ein Glas Warmbier, rauchte dazu sein Pfeifchen und
plauderte mit Peter, dem Schneiderwirt, über die Schlachten bei Wörth
und Sedan, und wie kalt es in diesem Winter gewesen war; und ich hörte den
beiden alten Soldaten mit Interesse zu.
"Bist `ne wackre Dirn, " sagte der alte Christian zu mir, als wir
eine halbe Stunde später in dem hübschen Wirtsschlitten unter
lustigem Geläute nach Hause fuhren, "bist `ne wackre Dirn, kleine
Doktorn, ich ließ das Vater und Mutter extra bestellen und viele
Grüße und schönen Dank dazu." Damit sprang er vor seiner
Tür aus dem Schlitten, winkte noch mal mit der Pfeife, und der Kutscher
fuhr weiter meinem elterlichen Hause zu. Ich lief die Treppe hinauf und fiel
meiner Mutter um den Hals. Mein Herz war zu voll; erst nach und nach konnte ich
von allem erzählen. Aber nie zuvor hatten mir die Lichter am Tannenbaum so
hell gestrahlt, und nie zuvor hatte ich Eltern und Geschwister so lieb gehabt
wie an diesem Weihnachtsabend!
Zwischen dem alten Christian und mir entspann sich seit jenem Tage eine
wirkliche Freundschaft, die bis zum Tode des alten Mannes dauerte. Oft
saß ich an freien Nachmittagen in seinem Stübchen, las ihm die
Zeitung vor oder beschäftigte mich mit seinen Haustieren, für die ich
meist diesen oder jenen Leckerbissen bereit hielt. Am Tage vor Weihnachten aber
gingen wir regelmäßig in den Wald, um die Tiere zu füttern, und
ich sammelte schon Wochen vorher für unsere Lieblinge.
Manch ein echtes und kluges Wort ist damals aus dem Munde des alten Christian
in meine Seele geglitten und hat dort eigene Weihnachtskerzen angezündet,
die hell und lieblich auf meinen Lebensweg leuchteten.
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Paula Dehmel 1862 - 1918
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