Die Geschichte von der Frau Holle ( 4 )
Es war auch ein schlechter Spaß, bei Schnee und Eis, bei
Wind und Wetter auf einem Zwirnsfaden durch die Nacht zu reiten.
Nun hatte die Frau Holle einen lieben, alten Freund, das war der Storch. Der
war weit gereist, hatte alle möglichen fernen Länder und Menschen
gesehen und wusste immer guten Rat. Der kam einmal im Sommer zu ihr auf Besuch,
denn im Winter ist es ihm im Odenwald viel zu kalt, dem klagte sie ihre Not und
sagte: "Lieber Storch, ich bin alt und gar allein, da möchte ich gern
ein Töchterchen haben, mit dem ich spielen und das ich hinunter zu den
Menschen schicken könnte, um die Fleißigen und Braven zu belohnen
und die Faulen und Bösen zu bestrafen. Du bist so weise und gelehrt und
bringst allen Menschenfrauen die kleinen Kinder, da muss es dich doch auch
freuen, wenn die Kinder brav und gut werden und etwas lernen."
"Ganz gewiss Frau Holle, das versteht sich von selbst", klapperte der
Storch.
"Wenn ich nun ein kleines Mädchen hätte, würde ich es so
lieb und fromm machen, dass alle Kinder ihm gleichen und von ihm geliebt sein
möchten. Lieber Storch, bringe mir von Deiner nächsten Reise ein
kleines Töchterlein mit!"
"Mein liebe Frau Holle", sagte der Storch, "das tue ich ja
herzlich gern; das schönste, beste und frömmste Kind, das ich auf
Erden finden kann, will ich Euch hierher bringen. Habt nur ein wenig
Geduld."
Frau Holle nickte und der Storch flog fort.
Der Sommer verging und der Herbst und der Winter kamen mit Macht. Frau Holle
schaute jeden Tag sehnsüchtig hinaus, ob der Storch nicht käme, aber
vergebens. sie ward ganz traurig und wollte gar nicht mehr ausreiten, wie sehr
auch die Menschen unten auf der Erde sich nach ihr sehnten. Die Englein taten,
was sie konnten, um sie aufzuheitern. Sie schüttelten und rüttelten
Frau Holles Bettchen und jagten die Federn so hoch in der Luft herum, dass die
Flocken ringsum fußhoch lagen und Menschen und Tiere darin stecken
blieben. Darüber wollte sich dann das kleine Volk halb tot lachen, aber
Frau Holle lachte nicht, sondern befahl ihnen nur, den Unsinn unterwegs zu
lassen. - Die Tage wurden kürzer und kürzer, die Nächte
länger und länger und endlich kamen die paar allerkürzesten
Tage, an denen die Sonne kaum Zeit hat hervorzugucken und gleich wieder fort
muss. Eben war sie wieder im Sinken begriffen, da zeigte sich ein schwarzer
Punkt über dem Odenwald, der kam näher und näher und wäre
es nicht schon so dämmrig gewesen, hätte man leicht den Gevatter
Storch erkennen mögen. Das war ja in dieser Jahreszeit eine Seltene
Erscheinung; er war es aber wirklich und er flog geradezu herauf auf den
Böllstein und an Frau Hollens Fenster. Er schlug mit seinem langen
Schnabel daran und rief: "Geschwind, liebe Frau Holle, geschwind macht
auf, mich friert ganz erbärmlich!" Schnell rissen die Engelein das
Fenster auf und ließen den Gevatter Storch herein.
"Da bin ich", sagte er, "ich komme weit, weit her aus einem
heißen Lande, wo die Sonne fast nicht untergeht und habe Euch von dort
das schönste, beste und frömmste Kind mitgebracht, das auf der ganzen
Erde zu finden war." mit diesen Worten legte er ein kleines,
schneeweißes Kindlein, das er vorsichtig im Schnabel trug, auf Frau
Hollens Bett. Als sie das hörte und sah, stieß sie einen
Freudenschrei aus, und die Engelein jauchzten laut auf. Das war ein
Vergnügen!
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Luise Büchner 1821 - 1877
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