Die Geschichte von der Frau Holle ( 5 )
Das Kindchen machte seine Augen weit auf, die waren so
durchsichtig blau, wie der schönste Sommerhimmel, dabei hatte es eine
Menge kleiner, goldner Löckchen auf dem Kopf und - das war das
Schönste - zwei kleine, schneeweiße Flügel an den Schultern.
Der Storch, der als ein weiser Mann nicht gern viel Worte machte, deutete auf
die Flügel und sagte kurz: "Damit es nicht auch auf dem Zwirnsfaden
reiten muss", worauf Frau Holle glückselig nickte und das liebe Kind
immer wieder von Neuem herzte und küsste. Die Engelchen freuten sich fast
nicht weniger als Frau Holle und schrieen und lärmten nach Herzenslust.
Der Storch aber machte ein ernsthaftes Gesicht und sagte: "Schweiget jetzt
Alle einmal und hört, was ich Euch zu sagen habe. Ich dachte immer an das,
was ich Frau Holle versprochen hatte und bin durch die ganze Welt geflogen,
ohne das ich bei den Menschen ein Kindlein finden konnte, das lieb und fromm
genug war, um ihr Töchterlein zu sein. So ward es Herbst und Winter und
meine alten Augen waren zuletzt ganz müde vom Suchen. Da kam ich heute in
ein fernes, fernes Land, wo das ganze Jahr über die Sonne scheint und
Frucht, wie Blüte nie vergehen. Dort war es schon Nacht, als hier noch Tag
gewesen, aber das Dunkel erhellte ein großer, heller Stern mit so
wunderbarem Glanze, wie ich noch nie gesehen. Der Stern schoss pfeilgeschwind
durch die Luft und ich flog ihm nach, bis er über einer kleinen, niederen
Hütte stehen blieb. Ich sah hinein, da lag in einer Krippe ein
wunderschönes, herrliches Kind, von dem ein noch hellerer Glanz als von
dem Sterne ausging. Rings um die Krippe schwebten Englein auf goldenen Wolken,
die sangen so schön und lieblich, wie ich noch nie etwas gehört. Das
Kind aber lächelte mich so freundlich an, dass ich dachte, dies ist das
Kind, das ich Frau Holle bringen möchte, denn ganz gewiss ist es das
liebste und beste auf Erden."
Da rief eine Stimme neben mir, von der ich nicht weiß, woher sie
gekommen: "Willst Du es mit Dir nehmen, dass es den kleinen
Menschenkindern in Deinem Lande stets ein Kind bleibe? Das Kind von dem sie
lernen, was Güte, Liebe und Gehorsam ist, selbst dann noch, wenn es schon
lange das Licht geworden, das die ganze Welt erhellen und mit neuem Glanze
verklären wird." Im nächsten Augenblick fühlte ich mich mit
dem Kinde emporgehoben und wie im Sturm durch die Luft getragen, ohne das ich
meine Flügel zu bewegen brauchte, und da bin ich nun Frau Holle und Ihr
besitzet das Kind, das Ihr Euch so heiß gewünscht, das gute fromme
Kind, dem die Menschenkinder in allem Guten nacheifern sollen, das freundliche
Kind, das ihnen Freude spendet, wenn sie brav sind, aber auch das
zürnende, das die Unartigen bestraft."
Während der Storch geredet, weinte Frau Holle heiße Tränen
stille in ihren Schoß und selbst den mutwilligen Engelein wurden die
Äuglein vor Rührung trübe. Dann kniete sie neben dem Bette
nieder, auf welchem das Kindlein lag und sprach: "Ja, ich kenne Dich, Du
bist das Licht der Welt, das über uns gekommen und vor dem meine Macht zu
Ende geht. Die deutschen Kinder aber sind doppelt glücklich zu preisen vor
allen Andern. In unsere deutschen Wälder und Täler bist Du
niedergestiegen als Kind und in ihnen bleibst Du jetzt als Kind, bis in alle
Ewigkeit und wirst allen Kindern das schönste und herrlichste Vorbild
sein!" Nun aber hielten sich die Englein nicht länger, auch ihnen war
ja die himmlischste Nacht angebrochen, die sie je gesehen und sie wollten diese
in Jubel und heller Freude begehen.
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Luise Büchner 1821 - 1877
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