Die Geschichte vom Christkind-Vogel ( 1 )
Unter den vielen Vöglein, die in Wald und Feld herumfliegen und singen und
zwitschern, gibt es einen ganz kleinen, bunten Vogel, der kleinste von allen,
den nennen die großen und gelehrten Leute den Zaunkönig. Die Kinder
aber und die einfältigen Leute, zu denen die Tante auch gehört, die
sagen, wenn er vorüberfliegt: "Das ist der liebe
Christkindvogel!"
Freilich wissen sie kaum, weshalb er so heißt, die Tante weiß es
aber und erzählt es dem Mathildchen und dem Georg folgendermaßen:
"Ich habe Euch noch gar nicht gesagt, dass vier Wochen vor Weihnachten der
Nikolaus auf dem freien Platz droben auf dem Böllstein jeden Abend ein
großes Feuer anzündet, das heißt das Weihnachtsfeuer. Daran
wärmen sie sich, er und das Christkind, wenn sie in der Nacht ganz
erfroren heim kommen und dann bleiben sie oft bis zum Morgen dabei sitzen und
arbeiten für die Weihnachtsbescherung. Da geschah es aber einmal vor
langer, langer Zeit, dass der Nikolaus neben dem Feuer einschlief, statt zur
rechten Zeit Holz nachzulegen, und das war ein rechtes Unglück, denn es
begab sich gerade am Weihnachtstag, und einen dümmeren Streich hätte
der Nikolaus gar nicht machen können. Als das Christkindchen herauskam und
sein Kerzchen anzünden wollte, mit dem es die Weihnachtsbäume
anbrennt, da war auch nicht das kleinst Köhlchen in der Asche mehr
aufzufinden, obgleich der Nikolaus wie ein Blasebalg hineinblies, dass ihm der
Staub in die Kehle flog und die Asche in's Gesicht. Seitdem ist seine Stimme
noch viel rauer und sein Gesicht noch einmal so dunkel als vorher. Es war aber
gar nichts zu machen, aus war das Feuer und guter Rat teuer.
Zündhölzer, die man hätte anstreichen können, gab es damals
noch nicht, und wenn auch der Nikolaus endlich ganz unten aus seinem Sack einen
Feuerstahl und ein Stückchen Zunder herauskramte, so war damit noch nicht
geholfen. Er hatte auch da nicht Acht gegeben, hatte den Sack im Schnee liegen
lassen, nun war der Schwamm nass und wie er auch drauf schlug und sich die
Finger zerhieb, kein Fünkchen, das aus dem Stahl sprang, konnte
zünden. Das gute Christkindchen ward da zum ersten Male in seinem Leben
bitterböse und es hätte gern den Nikolaus fortgejagt, wenn es nur
gleich einen Anderen gehabt hätte.
Wo sollte man nun Licht herbekommen? Es blieb gar nichts anderes übrig,
als sich droben bei der lieben Mama Sonne ein Strählchen auszubitten. Wer
konnte aber den weiten, weiten Weg bis zu ihr in der Geschwindigkeit
hinauffliegen? Der Nikolaus, dem es von Rechtswegen zugekommen wäre, hatte
keine Flügel und wenn er sich in seinem Pelzrock auch noch so sehr
aufgeblasen hätte, er wäre ja noch nicht bis über die kleinste
Fichte hinaus gekommen. Das Christkind hatte wohl Flügel und hätte es
schon eher wagen können, aber es ließ traurig den Kopf hängen
und sagte: "Der lieben Sonne bin ich von Weitem gar zu gut, aber nahe bei
ihr ist es so brennend heiß, dass gewiss mein ganzes Gesicht schwarz
davon wird. Was soll ich aber mit einem schwarzen Gesicht? Da fürchten
sich die Kinder auch vor mir, wie vor dem Nikolaus und lieben mich nur noch mit
Zittern und Zagen, wenn ich ihnen auch die schönsten Gaben bringe. Das
darf nicht sein und außerdem ist es ja auch ein Mägdlein, dem man es
nicht übel nehmen kann, wenn es lieber ein schönes, helles Gesicht,
als ein schwarzes haben mag.
Auf einmal fiel ihm etwas Schönes ein.
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Luise Büchner 1821 - 1877
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