Wer hat die größte Freude? ( 1 )
"Mutterli, jetzt kommt er, Mutterli, er ist da!" rief Trudchen mit
schmerzbebender Stimme. Es hatte den Schritt des Doktors auf der Treppe
gehört. Seine feinen, geschärften Ohren hatten sich gewöhnt,
jeden Schritt zu kennen und die Persönlichkeit, die nahte, zum Voraus beim
Namen zu nennen. Ach, alle Tage kam der Schritt, der Trudchens Gesicht
schneeweiß und das kleine Herz schneller pochen machte. Seit Monaten
hörte es diesen Schritt kommen und gehen. Seit Monaten lag Trudchen an
einem bösen Hüftleiden im Bette, hörte nur von ferne das Rufen
der Gespielen auf der Straße und im Garten und litt geduldig und still
seine immer steigenden Schmerzen.
Heute aber brach es in krampfhaftes Weinen aus. Der Arzt hatte ihm eine
gründliche Untersuchung der Wunde verheißen, und Trudchen wusste,
was das bedeutete.
"Sei tapfer, Kind, bitte, sei tapfer", versuchte die Mutter zu
trösten, der das Weh und die Not des Kindes tief ins Herz schnitt.
"Es ist bald vorbei, und noch immer bist du mein tapferes Trudchen
gewesen!"
Es war noch lange nicht das letzte Mal, dass Trudchen tapfer sein musste. Es
folgte noch ein langes, langes Liegen und Warten. "Mutterli, warum kann
ich nicht sein wie andere Kinder?" fragte die schwache, zitternde Stimme
immer wieder. "Und wenn ich nicht sein kann wie andere Kinder, warum nimmt
mich der Heiland nicht in den Himmel?"
Ungezählte Male versuchte die arme, mitleidende Mutter die
"Warum?" alle zu beantworten, oder wenigstens zu beschwichtigen; aber
ihr blieb das Geschick ihres Trudchens selbst ein großes: Warum? Als sich
nach Jahren die Wunde schloss, da war das linke Bein für immer viel
kürzer. Trudchen konnte nur mit Mühe gehen, und wenn man ihr auch mit
menschlicher Kunst so viel als möglich zu Hilfe kam, es blieb ein
unermessliches Bleigewicht an den Flügeln des jungen, geistig so
lebendigen Kindes.
Es schaffte sich seine eigene Welt. Wenn es auf seinem Stuhl lag, müde von
den kurzen Marschversuchen, vertiefte es sich in seine Bücher, in seine
Geschichten und Lieder; aber der schmerzliche Schrei des Herzens: "Warum
kann ich nicht sein wie die andern?" ging mit ihm, wuchs mit ihm auf und
brachte ihm viel heiße Tränen.
Einst fand die alte, gute Rosel, das treue Kindermädchen der Familie, das
alle kannte und von allen geliebt wurde, Trudchen in heftigem Schluchzen. Eben
hatte die ganze Familie, die Eltern mit den fröhlichen Brüdern und
Schwestern das Haus verlasse, und ihre Stimmen verhallten in der Ferne; sie
machten einen Ausflug auf den nahen Berggipfel, der grün und
tannenbewaldet aus der Ebene ausragte; von dort aus wollten sie hinausschauen
zu den weißen Alpen, die groß und herrlich wie ein
majestätischer Kranz am Horizont aufgestellt erschienen. - Trudchen
wäre so gern mitgezogen. Ihr empfängliches Herz sehnte sich nach all
dem Schönen, was die andern dort oben schauen sollten, und die
Gebundenheit an den Stuhl legte sich verzweiflungsvoll auf das junge Herz. So
fand Rosel das Mädchen. Leise rückte sie einen Stuhl neben Trudchen
und wartete still, bis das Schluchzen kürzer und kürzer wurde und
langsam verstummte. Rosel war eine fromme, innige Seele, die ihr Leben lang vor
dem Heiland gelebt hatte, froh in seiner Gemeinschaft und dankbar selig in
seiner vergebenden Liebe.
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Dora Schlatter 1855 - 1915
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