Wer hat die größte Freude? ( 5 )
"Nun, gottlob und Dank! ich bin da!" sagte er und wischte sich den
Schweiß von der roten Stirn, "es war stellenweise ein wenig tief,
tiefer als ich gemeint hatte. Aber gestern hat mir der Poostmeister ans Fenster
geklopft und gesagt: Stell' dir vor Peter, da soll unsereiner hinauf zur
Lushütte, lieber lass ich's verfaulen bis zum Frühling'. "Ja,
was ist's?" hab' ich da gefragt. "Ein Packet ist's, ein großes,
graues, fest verschnürt und ordentlich versiegelt, ans Anneli auf der
Lushütte ist's adressiert, und von Basel kommt es!" Ich hab' mit das
Ding dann angeschaut und gedacht: "Von wegen der alten Kameradschaft
willst du's wagen und hinaufsteigen, und da ist nun das Ding!"
Sprachlos schaute Mutter Anneli und klein Anneli auf das graue, unförmige
Ding, das sich vom Rücken des Wandermannes löste. "Ei, wer
wollt' und was schicken? Hab' keine Seele in der weiten Welt und noch dazu im
Winter auf die Alp herauf!" Die Verwunderung nahm kein Ende. Hannes aber
fand, gesprochen sei genug über den Gegenstand; er nahm sein Messer aus
der Hosentasche und schnitt den Knoten sorgsam durch, löste die Schnur und
dann die Hülle. Anneli durfte das Papier gar nicht anfassen. Ihm war's,
als geschähen Wunder. Sie aber schaute gespannt und gleich verkündete
sein Ruf: "Ein Bilderbuch!" da es den Inhalt scharf erkannt hatte.
die Mutter aber hielt eine weiche, warme, köstliche Jacke im Arm, konnte
sich nicht satt sehen und satt streicheln. Die Männer aber schmunzelten,
denn keiner war vergessen, drei schöne Pfeifen lagen da und herrlicher
duftender Tabak dazu. Da schnalzte selbst der Hans laut mit der Zunge, und
Peter meinte: "`s war doch wert, das Ding da herauf zuschleppen!"
"Dank, vielen Dank, Peter!" rief es da durcheinander, und die Hand
wurde ihm geschüttelt, als ob er das Christkind in Person wäre.
"Halt, halt, da steht's, wer den Dank verdient", rief dieser
kläglich, "lest nur den Brief!"
Ja ein Brief! Jeder schob ihn dem andern zu, bis Peter sich der Sache annahm
und berichtete, der Brief sei von einer Jungfer, die im Herbst auf der
Lushütte so glücklich gewesen sei, und die am Christfest, da alles
sich freue, der fünf Einsamen gedenke und ihnen eine Freude machen
möchte!
"O, das ist gewiss die Jungfer mit dem lahmen Bein!" sagte das
pfiffige Anneli, "weißt, sonst war keine so glücklich!"
"Du könntest schon recht haben", sagte die Mutter, "sie hat
ja gesagt, sie habe etwas gelernt in der Krankheit, das nicht jeder lerne. Es
wird schon von ihr sein!"
Das war aber ein froher Weihnachtsabend in der Lushütte, so froh, wie noch
keiner gewesen. Peter trank Kaffee und aß wacker Käse dazu, die
andern rauchten die neuen Pfeifen an. Anneli besah das Bilderbuch von hinten
nach vorne und umgekehrt. Nur Mutter Anneli war sehr sinnend. Sie hatte einen
Gedanken hin und her zu bewegen, über den sie keine Klarheit fand.
So viele Touristen waren zu ihr auf die Höhe gestiegen, manche hatten
schon freundlich mit ihr gesprochen, aber keine hatte je daran gedacht, ihr
eine Freude zu machen, nur jene Jungfrau mit dem schmalen Gesicht und dem
lahmen Bein. Sie hatte gesagt, sie sehe manches, was andere nicht sehen. Ob's
wohl daher kam?
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Dora Schlatter 1855 - 1915
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