Wer hat die größte Freude? ( 2 )
Viel gesprochen hat sie nicht, aber stets mit dem
Unsichtbaren in lautlosem, anbetendem Verkehr gestanden.
Jetzt erartete sie, dass Trudchen zuerst reden würde. Fast hätte sie
sagen können, in welche Worte nun der Jammer sich kleiden würde, und
richtig, es kam auch: "Ach Rosel, warum kann ich denn nicht sein wie die
andern? Warum hat mir der liebe Gott alles genommen?"
Mit ruhiger Stimme fing nun Rosel an zu trösten: "Alles genommen,
Trudchen? Nein, vieles, aber nicht alles. Und weißt du was ich
glaube?"
"Meinst du?" fragte Trudchen zweifelnden Tones, "o, ich kann mir
nicht denken, was mir der liebe Gott geben könnte."
Das Gespräch hatte seine beruhigende Wirkung getan. Trudchen nahm ruhiger
ihr Buch. "Rosel, willst du zuhören, wenn ich dir vorlese?"
Rosel wollte das wohl und holte ihren dicken Strickstrumpf. Trudchen las
furchtbar gern vor, und heute war die Geschichte gar zu schön; es war
Ottilie Wildermuts schöne Geschichte vom braunen Lenchen. Im Lesen
vergaß Trudchen ihre Tränen und all ihren Kummer.
Viele Jahre waren vergangen. Der unvergleichlich schöne Herbst lockte noch
Scharen von Wanderer und Reisenden in die Berge. Da der große
Touristenstrom immer dichter die Abhänge überflutete, immer kecker
vordringt auf die unzugänglichen Höhen, da keine Wand mehr zu steil
und kein Grat zu schroff ist, es setze sich denn ein fremder Fuß darauf,
- seither suchen die eingeborenen Kinder des Landes die einsamsten
Tallöcher, die menschenvergessensten Alpen auf, um doch noch
ungestört hineinzuschauen in die Herrlichkeit der Berge; denn
Schöneres gibt es nicht, als wenn sie so dastehen, die Hörner und die
Zacken, bestrahlt und beleuchtet vom Gold der steigenden oder sinkenden Sonne.
So nahte sich auch am lichten Herbstabend eine fröhliche Gesellschaft von
schwatzenden und scherzenden jungen Leuten einer einsamen Hütte am
Ausläufer eines namhaften Gebirgsstockes. Es war die
"Lushütte", die eine weite saftige Alp beherrschte. In ihr
sollte die Nacht zugebracht werden, damit man am frühen Morgen den
herrlichen Aussichtspunkt besteigen könnte. Die Besitzerin der
Lushütte, eine behäbige, wohlbeleibte Frau in mittleren Jahren, trat
unter die Tür und besah sich die anrückende Gesellschaft.
"Na, `s sind ihrer etwa zehn; wird eng werden im Heu. Und was stoßen
sie erst noch in ihrer Mitte vor sich her? Richtig, `s ist noch eine Jungfer,
nur ist sie kleiner als die andern, es fehlt ihr was , sie geht lahm!" Wer
hätte gedacht, dass Trudchen einmal eine Bergpartie mitmachen würde!
Hätte man es ihr vor zehn Jahren gesagt, sie hätte geseufzt und
gemeint: "So was Schönes wird nie geschehen!" Und jetzt nahte es
wirklich und wahrhaftig! Von Brüdern geführt und geschoben, kam sie
auf die einsam gelegene Lushütte zu. Das Fußwerk tat ganz ordentlich
seinen Dienst. War's auch mühsam, sie kam doch voran! Und wie leuchtete
ihr schmales Gesicht, wie strahlten die Augen, als es oben stand und auf die
weiten weißen Bergreihen blickte, die in ungeahnter Schönheit vor
ihm aufgepflanzt lagen. Trudchen fand nicht Worte genug, das Entzücken zu
benennen, das ihre Seele füllte. Mit verschlungenen Händen schaute
sie hinaus, und wer deutlich in ihrem Gesichte hätte lesen wollen, der
hätte etwas wie Anbetung dort entdeckt.
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Dora Schlatter 1855 - 1915
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