Wer hat die größte Freude? ( 4 )
"So, so, dann ist's schon recht", sagte die Frau und schloss die
Unterhaltung, da sie merkte, Gertrud wollte gern noch ein wenig mit der
Herrlichkeit vor ihr allein sein. Sie stützte dann auch ihren Kopf in die
Hand und schaute und schaute unverwandt auswärts, als wollte sie das Bild
fest in ihre Seele prägen. O, dass sie das schauen durfte! Ihre Seele war
voll Dank.
Der Winter von 1895 war außergewöhnlich milde. Im Dezember war es
noch wie liebliches Frühlingswetter; erst gegen die Christtage zu deckte
den leicht gefrorenen Boden eine weiche, weiße Schneedecke. Allerdings
war diese dichter, je höher es den Bergen zuging, aber dafür lachte
dort auch ungetrübter heller Sonnenschein, so dass man nur zu staunen und
zu schauen hatte. Die Lushütte lag still und lautlos, der einzige braune
Fleck auf der weißen Fläche. - "Es ist heute der 24.
Dezember", sagte die Frau zu Hannes. "Drunten feiern sie das
Weihnachtsfest. Ich denke wir machen heute einen mächtigen Eierkuchen,
dass man auch etwas merkt, dass Festtag ist."
Anneli war gar sehr einverstanden mit dem Festgedanken. Sie kannte kein anderes
Feiern; dass es anderswo Christbäume gab und Lichter und Geschenke, davon
hatte sie keine Ahnung. Ihr war der Eierkuchen ihr schönster Festgedanke,
und in seiner Erwartung war sie glücklich. Kein Ton der vielen Glocken,
die in der Welt draußen die Christnacht verkündeten, drang empor zur
stillen Hütte, und leise nur verhallte Annchens jubelndes Lachen in der
majestätischen Einsamkeit.
Der Weihnachtstag strahlte über den Berghäuptern in nie dagewesener
Pracht. Fast vermochte die Sonne ein grünes Fleckchen an der Sonnenseite
der Hütte hervorzuzaubern, und die jungen Tiere im Stall warn besonders
unruhig, als witterten sie Frühlingsnähe. "Du, Hannes",
rief da die Frau laut durch die offene Türe, "schau doch einmal ins
Tal. Ist's nicht, als stampfe dort ein Mann durch den Schnee?"
Der Hannes sperrte seine Augen weit auf. Unmöglich! mitten im Winter kommt
niemand auf unsere Höhe!"
Und doch kam's ihm so vor, als bewege sich ein schwarzer Punkt voran. Das war
ein Ereignis! die fünf Bewohner der Hütte standen in gespanntester
Erwartung nebeneinander und starrten auf den Pfad der im Sommer die Touristen
zu ihnen heraufführte. Jeder teilte dem andern seine Beobachtung und
Vermutung über das Wie und Woher des nahenden Menschen mit, und alle waren
freudig erregt, ein Wesen aus der Außenwelt zu sehen und Neues zu
hören von Markt und Stadt, von Krieg und Wassernot. Der Mann kam
näher und näher. Hannes formte aus seinen beiden Hände eine Tuba
und brüllte wie der Uristier: Hollah, hoh! Und wirklich, es kam ein Ton
zurück wie ein Hauch nur, und doch eine deutliche Antwort. Nun ging's an
ein Jodeln auf der Höhe, wie am hellen Sommerabend, und von unten klang
die Antwort immer lauter, immer deutlicher.
"Wahrhaftig, ich glaub', es ist der Peter aus der Krone!" sagte der
Hannes, und alle stimmten mit ein. Das war ein Entgegenkommen, ein
Bewillkommen, ein Grüßen und Fragen!
"Lass doch den Peter verschnaufen", mahnte die Frau, "drinnen
bei einer Tasse Kaffee soll er warm werden und erzählen. Alles kann er
doch nicht auf einmal sagen!"
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Dora Schlatter 1855 - 1915
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