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  Wer hat die größte Freude? ( 3 )
  In aller Morgenfrühe, als die Sternlein von ihrem Ritt noch nicht müde waren, zog die junge Schar der Höhe zu. Gertrud fühlte, dass ihr Bein von der gestrigen Wanderung schmerzte, zog es daher vor, in der Hütte die Rückkehr der andern abzuwarten. sie hatte ja schon so viel Schönes gesehen und verlangte nicht nach mehr. So dass sie denn friedlich vor dem hölzernen Tisch an der Sonnenseite der Hütte und ließ sich die schaumige Bergmilch herrlich schmecken. Immer wieder glitt ihr Blick träumend und sehnsuchtsvoll über die Herrlichkeit, und aus ihrer Brust stieg es wie ein mächtiges Atmen.
  "Es ist zu schön bei Ihnen", rang es sich über Gertruds Lippen, als die Besitzerin der Hütte zu ihr trat.
  "Ja, schön ist's, sagte sie ruhig, "ich weiß nie, wann's am schönsten ist, ob im Sommer oder im Winter."
  "Sind sie auch im Winter hier oben?" lautete die erstaunte Gegenfrage, "da muss es einsam sein." "Einsam wohl, aber auch schön, wenn alles weiß schimmert, von hier aus bis zu den Bergen am Himmelblau, das ist dann ein Duft und ein Glanz, man weiß fast nicht, wohin zuerst schauen!"
  Gertrud saß eine Weile still. Ihr inneres Auge sah die Alm im schneeigen Glanze; aber mehr als von der Schönheit war sie von dem Gedanken an die unsägliche Einsamkeit ergriffen.
  "Aber da kommen Sie ja wochenlang nicht ins Tal, und Niemand kommt zu Ihnen? Wovon leben sie denn?"
  "Ei, von Milch und Käse und Butter! Wir haben den Stall voll junger Rinder; die ziehen wir auf. Der Ertrag der Alp ist groß und reicht weit, und im Frühjahr zieht ein Teil weiter bergauf oder talab. Ich finde es sei nichts Schreckliches, da oben zu bleiben, sondern etwas Schönes; übrigens sind drei Brüder bei mir und meine Anneli! Anneli!" rief dann die Frau in die Hütte, und bald erschien ein etwa sechsjähriges, frisches, rosigbackiges Mägdelein, das sich bei der genierlichen Vorstellung hinter die Schürze der Mutter verstecken wollte. "Tu nicht ungeschickt", mahnte diese, "sieh, die Jungfer reicht dir die Hand!"
  Als das Kind wieder verschwunden war, setzte sich die Frau neben Gertrud. Lange betrachtete sie ihre schmalen, bleichen Züge mit dem großen, braunen Auge, das so feucht schimmerte. Es ging etwas wie Bedauern durch die Seele der Frau. "Sag warum gehst du lahm?" fragte sie dann unvermittelt, "was hast du gemacht?"
  Gertrud fuhr ein wenig zusammen. Eigentlich wollte sie heute an dem schönen Morgen sich nicht an das Bleigewicht ihres Lebens erinnern lassen, aber das Gesicht der Wirtin blickte so gutherzig, dass sie lächelnd eine kurze Geschichte ihres Jugendleidens zum besten gab.
  Der Ausdruck der Zuhörerin wurde immer bedauerlicher. "Und bist du nicht sehr traurig, dass du das haben musst?"
  "Traurig? Eigentlich nicht mehr oft, nur noch manchmal, aber wenn ich nicht alles im Leben genießen kann, so habe ich dafür um so mehr Freude an dem, was mir Gutes in den Weg gelegt wird. Mein Bein hat mich vieles gelehrt, was ich ohne dasselbe nie gelernt hätte, und was die andern nicht sehen und fühlen!"
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  Dora Schlatter 1855 - 1915
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