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  Weihnachten auf einem livländischen Pastorat ( 1 )
  Ich habe eine Einladung zu Weihnachten auf einem livländischen Pastorat. Ich soll mitbringen, wen ich will. Das trifft sich herrlich: drei junge Künstler sind eben bei mir aus Nord -, Süddeutschland und aus England. Sie sind für den Winter nach Riga gekommen, um bei mir Gesang zu studieren: Eva, Tempe und Bobbi, alle drei jung, schön, talentvoll. Vor allen dreien liegt das Leben mit wundervollen Verheißungen, die sich alle erfüllen sollen. Ich teile ihnen die Einladung mit, die sie mit Jubel erfüllt. Ein livländisches Pastorat mit Winterschnee und Einsamkeit und dazu Weihnachtszeit! Sie denken sich ein Märchen darunter. Ich freue mich, ihnen ein Leben zu zeigen, von dem sie bisher keine Ahnung hatten, sie in eine Welt zu führen, die ihnen fremd war, und in der ich gelebt von meinen frühesten Kindertagen an.
  Der Pastor ist ein Verwandter. Er ist Junggeselle und lebt in seinem ganz weltfremden livländischen Pastorat allein mit seinen estnischen Leuten. Der Tag der Abreise ist gekommen. Ich habe vorher eifrig mit dem Pastor korrespondiert, er ist in der größten Aufregung. Er hat nie Künstler bei sich gehabt und fragt ängstlich, ob es ihnen auch bei ihm behaglich sein würde in den schlichten Verhältnissen, ohne Hausfrau. Er ist in die Nachbarschaft gefahren, um Einkäufe für die Festtage zu machen; er lässt ein Schwein schlachten, lässt Hühner und Enten morden, Berge von Vorräten häufen sich in der Speisekammer. Er hat immer die eine Angst: wird`s auch langen? Ich habe ihm tröstend geschrieben: "Die drei sind meine Kinder, die sich über alles freuen, Du sollst dir keine Sorgen machen, sonder nur froh sein." Die Bahnfahrt hat lange gedauert, und die frühe Dämmerung eines verschneiten Wintertages liegt über der Welt, als wir aus dem Zuge steigen. Zwei Schlitten aus dem Pastorat halten vor dem Stationsgebäude. Sie sind mit Pelzen und warmen Decken versehen. Meine drei haben auf der Fahrt so viel gelacht und gejauchzt, dass sie müde und still geworden sind. Schweigend fahren wir durch die verschneiten Felder. Der Himmel ist grau und schwer, Schnee, soweit das Auge reicht. Unter dicken Schneekappen geduckt liegen die Bauernhäuschen, an denen wir vorüberfahren, und aus den kleinen Fenstern fällt ein Lichtschimmer über den Weg. Es ist eine feierliche Welt voll überwältigender Einsamkeit, die mit leisem Finger an die Herzen meiner frohen Kinder rührt. Es ist atemlos still, dass es sich wie eine Last auf ihre Herzen legt; für mich aber ist`s wie ein frohes Heimkommen, denn ich liebe mein Land in seiner Winterhülle. Hell und eintönig klingen die Glöckchen an unserem Schlitten durch die Stille. Nach fast zweistündiger Fahrt taucht ferne ein Lichtlein auf; es ist die Lampe aus dem Pastorat. Wir fahren an der Kirche vorüber, nun hört man gewiss unsere Glocken auch dort schon. Bald halten wir vor der breiten Verandatreppe, über die eine mächtige Linde ihre verschneiten Zweige breitet. In der Haustür steht der Pastor, eine Lampe in der hoch erhobenen Hand haltend, und ruft uns ein frohes Willkommen zu. Er hat ein stilles, friedvolles Gesicht, das jetzt bleich vor Erregung ist. In sein ernstes Pflichtenleben kommt mit uns etwas Glanzvolles, Stürmisches, und er fürchtet sich davor, so sehr sich seine Seele auch nach Freude sehnt. Wir treten ins Haus, das für uns festlich bereitet ist: Tannenzweige, Tannenbäumchen, die mit brennenden Lichtlein geschmückt sind, finden wir in allen Zimmern. Duft nach frischgebackenem Brot und herrlichen Kaffee durchzieht das Haus.
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  Monika Hunnius 1858 - 1934
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