Weihnachten auf einem livländischen Pastorat ( 4 )
Sie
verstehen ihn nicht, aber sie fühlen die Freundlichkeit und das Licht, das
aus seinen schönen Augen strahlt. Mit Säcken und Körben stehen
sie da, in die sie ihre Gaben stecken, die meist aus Esswaren bestehen; dann
gehen sie wieder an ihre Plätze. Der Pastor spricht nun ein kurzes Gebet,
dann erzählt er, dass die jungen fremden Menschen, die heute unter ihnen
wären, um den Kranken und Traurigen Freude zu bringen und ihnen etwas
vorzusingen, weil es Weihnachten sei. Alles Murmeln und Sprechen hört auf;
eine tiefe Stille erfüllt das Zimmer. Die drei jungen Menschen stehen
unter der Lampe, deren Licht hell auf sie fällt. Bobbi hat seine beiden
jungen Freundinnen an den Händen gefasst, sie singen: "Stille Nacht,
heilige Nacht!" Es ist ein Bild voll Schönheit und Reinheit, und die
drei Stimmen klingen wie aus einer anderen Welt in all die Krankheit und das
elend hinein. Ein Lied nach dem anderen folgt, die Kranken heben sich aus ihren
Betten empor, sitzen aufrecht und trocknen sich mit zitternden Händen die
Augen, die alten Weiblein weinen in ihre Schürzen. Nun sind die goldenen
Stimmen verklungen, und in die tiefe Stille spricht plötzlich ein alter
Mann: "Gott hat uns seine Engel vom Himmel geschickt", sagt er,
"damit wir an seine Liebe glauben. So etwas werden wir nie wieder
hören." "Doch, doch", unterbrach ihn ein altes
Mütterchen, "wenn wir als Engel um Gottes Thron stehen werden."
"Nun aber, Leute, dankt", sagt wieder der alte Mann, "dankt mit
einem Liede." Alles, was sich erheben kann, erhebt sich; der Alte stimmt
einen Choral an. Zitternde, gellende Stimmen erklingen, aber mit heißer
Inbrunst wird gesungen, und ich glaube, dieser Gesang steigt ebenso vor Gottes
Thron wie das holde Singen der drei jungen Künstler. -
Der Weihnachtstag ist angebrochen. Wir schmücken den Weihnachtsbaum mit
goldenen Nüssen und kleinen roten Äpfeln. Der Küster ist
gekommen, Tempe und Eva haben ihm die Tür geöffnet. Er ist ein alter
Original, das schon unter dem Vater das jetzigen Pastors sein Amt mit
Wichtigkeit geführt hat. Er fühlt sich durchaus zum Pastorat
gehörig und spielt eine große Rolle unter den Bauern. Er steht in
der Amtsstube vor dem Pastor und vergisst sein Amt, das ihm sonst heilig und
wichtig ist.
"Bei Gott, Herr Pastor, ich habe zwei Engel gesehen", sagt er,
"geht so was auf zwei Füßen auf der Welt herum?"
Der Pastor will ihn glücklich machen und schickt ihn mit einem Auftrag ins
Weihnachtszimmer. Er wird von uns sofort angestellt, was ihn ganz außer
sich vor Glück macht. Tempe steht hoch auf einer Leiter, um die goldenen
Nüsse an der Spitze des Baumes zu befestigen.
"Sie fällt herunter!" schreit Bobbi, "halten Sie fest, Herr
Küster!"
Der Küster nähert sich ehrfurchtsvoll der Treppe, auf der sie steht,
und breitet die Arme aus, um sie im Notfall aufzufangen. Bobbi versetzt der
Treppe Stöße, in der Hoffnung, sie herabzustürzen; der
Küster lächelt leise in sich hinein. -
Es ist Nachmittag. Der Pastor ist zum Gottesdienst, wir aber gehen nicht mit,
denn die Kirche ist eisig. Wir sitzen im Speisezimmer auf dem Fensterbrett mit
dem breiten Tritt davor und blicken auf die erleuchtete Kirche, aus der
Orgelklang und Gesang herüberschallen. Alles liegt im tiefen Schnee.
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Monika Hunnius 1858 - 1934
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