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  Weihnachten auf einem livländischen Pastorat ( 3 )
  Er lächelt. "Lass mit Zeit", sagte er, "es ist mir noch alles zu stark und zu hell, ich muss mich erst daran gewöhnen."
  Mit großartiger Gastfreundschaft machte er jeden Tag zu einem Festtag. Sein Pferde wurden ganz mager, so viel mussten sie mit uns spazieren fahren. Küche und Keller lieferten ihr Bestes, und die Berge von Gebäck und Süßigkeiten standen jeden Tag auf dem Tisch im Wohnzimmer.
  Wir wanderten über die verschneite Landstraße, wir lieferten uns Schneeballschlachten in den Wäldern; wir zündeten bengalische Flammen im verschneiten Garten an, der in märchenhafter Schönheit erglühte.
  Abends sangen wir den Pastor in den Schlaf, sangen Weihnachtsoratorien von Bach mit allen Chören und Soli.
  Eines Tages sagt der Pastor: "Ihr müsst den Weihnachtsbaum aus dem Walde holen, sucht die schönste Tanne aus!"
  In mehreren kleinen Schlitten fahren wir ab, auf tiefverschneiten Wegen geht`s in den Wald hinein. Wir müssen aussteigen, die Pferde werden an die Bäume gebunden. Wir werden geführt von zwei Knechten mit blinkenden Beilen, durch einen Graben müssen sie uns tragen. Endlich sind wir in einer Schonung, wo die schönsten Tannenbäume stehen. Die Entscheidung fällt schwer, jeder will einen anderen Baum haben. Nun soll ich entscheiden, und ich entscheide. Die Axthiebe klingen durch den stillen Wald, die Tanne zittert unter den Schlägen, dann neigt sie ihren Wipfel und sinkt langsam zu Boden. Mit Indianergeheul stürzt William sich auf sie, im Triumph wird sie zum Schlitten durch den Schnee geschleift. Zwei Schlitten werden zusammengebunden, darauf wird sie gelegt, und wir fahren im Zuge heim. Bald steht die hohe, dunkle Tanne mitten im Wohnzimmer; ihre Spitze reicht bis an die Decke, und ihr Duft dringt durch alle Räume. Der Pastor hat uns mit der Nachricht empfangen, es sei eine Kiste für Tempe angekommen. Die Kiste kommt aus Süddeutschland und birgt für uns fremde Schätze. Sie ist gefüllt mit Zweigen von Stechpalmen, sogar ein Mistelzweig ist darin. Die sollen am Weihnachtsabend den Weihnachtstisch schmücken.
  Der Pastor kündigt uns an, dass wir ins Armenhaus fahren, um mit den Armenhäuslern Weihnachten zu feiern. Wir werden dick verpackt, denn es ist ein eisiger Wintertag, und das Armenhaus liegt weit. Wir fahren wieder in einzelnen kleinen Schlitten, man sieht sie über die Schneefläche gleiten und hört das Läuten der Glocken durch die tiefe Stille. So weit das Auge reicht, eine weite Schneefläche, die Einsamkeit ist unermesslich.
  Nun halten wir vor dem Armenhaus, einem langestreckten, dunklen, traurigen Gebäude, und wir wickeln uns aus unseren Pelzdecken. Alle Vorräte werden aus dem Schlitten ins große Zimmer des Armenhauses getragen. Es ist halbdunkel drinnen, eine Petroleumlampe hängt von der Decke und leuchtet den trüben Raum. Hier haben sich alle versammelt und warten auf eine Weihnachtsfreude. Betten stehen an den Wänden, in denen Kranke liegen, auf Bänken und Stühlen haben die anderen Platz genommen, vergrämte, alte müde Gesichter. In der Mitte des Zimmers, gerade unter der Lampe, werden die mitgebrachten Sachen ausgebreitet. Die Leute kommen alle heran und umstehen erwartungsvoll die Gaben. Der Pastor ruft den Namen der einzelnen auf, der Gerufene tritt in den Lichtkreis der Lampe, und Bobbi teilt ihnen die Geschenke aus.
  Er hat für jeden ein strahlendes Lächeln, ein freundliches Wort.
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  Monika Hunnius 1858 - 1934
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