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  Unter dem Tannenbaum ( 4 )
  Nun wurde die Magd herbeigerufen, deren Bescherung durch dieses Zwischenspiel bis jetzt verzögert war; und als mit ihrer Hilfe die verhüllten Dinge in das helle Weihnachtszimmer gebracht waren, kniete Frau Ellen auf dem Fußboden und begann mit ihrem Trennmesser die Nähte des großen Packens aufzulösen. Und bald fühlte sie, wie es von innen heraus sich dehnte und die immer schwächer werdenden Bande zu sprengen strebte; und als der Amtsrichter, der bisher schweigend dabei gestanden, jetzt die letzten Hüllen abgestreift hatte und es aufrecht vor sich hingestellt hielt, da war`s ein ganzer mächtiger Tannenbaum, der nun nach allen Seiten seine entfesselten Zweige ausbreitete. Lange schmale Bänder von Knittergold rieselten und blitzten überall von den Spitzen durch das dunkle Grün herab; auch die Tannäpfel waren golden, die unter allen Zweigen hingen. Harro war indes nicht müßig gewesen, er hatte den Quersack aufgebunden; mit leuchtenden Augen brachte er einen flachen, grün lackierten Kasten geschleppt. "Horcht, es rappelt!" sagte er; "es ist ein Schubfach darin!" Und als sie es aufgezogen, fanden sie wohl ein Schock der feinsten, weißen Wachskerzchen. - "Das kommt von einem echten Weihnachtsmann!" sagte der Amtsrichter, indem er einen Zweig des Baumes herunterzog, "da sitzen schon überall die kleinen Blechlampetten!"
  Aber es war nicht nur ein Schubfach in dem Kasten, es war auch obenauf ein Klötzchen mit einem Schraubengang. Der Amtsrichter wusste Bescheid in diesen Dingen; nach einigen Minuten war der Baum eingeschoben und stand fest und aufrecht, seine grüne Spitze fast bis zur Decke streckend. - Die alte Magd hatte ihre Schüssel mit Äpfeln und Pfeffernüssen stehen lassen; während die andern drei beschäftigt waren, die Wachskerzen aufzustecken, stand sie neben ihnen, ein lebendiger Kandelaber, in jeder Hand einen brennenden Armleuchter empor haltend. - Sie war aus der Heimat mit herübergekommen und hatte sich von allen am schwersten in den Brauch der Fremde gefunden. Auch jetzt betrachtete sie den stolzen Baum mit misstrauischen Augen. "Die goldenen Eier sind denn doch vergessen!" sagte sie. - Der Amtsrichter sah sie lächelnd an: "Aber Margreth, die goldenen Tannäpfel sind doch schöner!" - "So, meint der Herr? Zu Hause haben wir immer die goldenen Eier gehabt." - Darüber war nicht zu streiten; es war auch keine Zeit dazu. Harro hatte sich indessen schon wieder über den Quersack hergemacht. "Noch nicht anzünden!" rief er, "das Schwerste ist noch darin!"
  Es war ein fest vernageltes hölzernes Kistchen. Aber der Amtsrichter holte Hammer und Meißel aus seinem Gerätekästchen; nach ein paar Schlägen sprang der Deckel auf, und eine Fülle weißer Papierspäne quoll ihnen entgegen. - "Zuckerzeug!" rief Frau Ellen und streckte schützend ihre Hände darüber aus. "Ich wittere Marzipan! Setzt euch; ich werde auspacken!" - Und mit vorsichtiger Hand langte sie ein Stück nach dem andern heraus und legte es auf den Tisch, das nun von Vater und Sohn aus dem umhüllenden Seidenpapier herausgewickelt wurde. - "Himbeeren!" rief Harro, "und Erdbeeren, ein ganzer Strauß!" - "Aber siehst du es wohl?" sagte der Amtsrichter, "es sind Walderdbeeren; so welche wachsen in den Gärten nicht."
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  Theodor Storm 1817 - 1888
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