Unter dem Tannenbaum ( 5 )
Dann kam, wie lebend, allerlei Geziefer; Hornissen und Hummeln und was sonst im
Sonnenschein an stillen Waldplätzen umherzusummen pflegt, zierlich aus
Dragant gebildet, mit goldbestäubten Flügeln; nun eine Honigwabe -
die Zellen mochten mit Likör gefüllt sein -, wie sie die wilden
Bienen in den Stamm der hohlen Eiche baut; und jetzt ein großer
Hirschkäfer, von Schokolade, mit gesperrten Zangen und ausgebreiteten
Flügeldecken. "Cervus lucanus!" rief Harro und klatschte in die
Hände.
An jedem Stück war, je nach der Größe, ein lichtgrünes
Seidenbändchen. Sie konnten der Lockung nicht widerstehen; sie begannen
schon jetzt den Baum damit zu schmücken, während Frau Ellens
Hände noch immer neue Schätze ans Licht förderten.
Bald schwebte zwischen den Immen auch eine Schar von Schmetterlingen an den
Tannenspitzen, da war der Himbeerfalter, die silberblaue Daphnis und der
olivenfarbige Waldargus, und wie sie alle heißen mochten, die Harro, hier
vergebens aufzujagen gesucht hatte. - Und immer schwerer wurden die
Päckchen, die eins nach dem andern von den eifrigen Händen
geöffnet wurden.
Denn jetzt kam das Geschlecht des größeren Geflügels, da kam
der Dompfaff und der Buntspecht, ein Paar Kreuzschnäbel, die im Tannenwald
daheim sind; und jetzt - Frau Ellen stieß einen leichten Schrei aus - ein
ganzes Nest voll kleiner schnäbelaufsperrender Vögel; und Vater und
Sohn gerieten miteinander in Streit, ob es Goldhähnchen oder junge Zeisige
seien, während Harro schon das kleine Heimwesen im dichtesten
Tannengrün verbarg.
Noch ein Waldbewohner erschien; er musste vom Buchenrevier herübergekommen
sein; ein Eichhörnchen von Marzipan, in halber Lebensgröße, mit
erhobenem Schweif und klugen Augen. "Und nun ist`s alle!" rief Frau
Ellen. Aber nein, ein schweres Päckchen noch! Sie öffnete es und
verbarg es dann ebenso rasch wieder in beiden Händen. "Ein
Prachtstück!" rief sie; "aber nein, Paul; ich bin
edelmütiger als du; ich zeig's dir nicht!" - Der Amtsrichter
ließ sich das nicht anfechten; er brach ihr die nicht gar zu ernstlich
geschlossenen Hände auseinander, während sie lachend über ihn
wegschaute. - "Ein Hase!" jubelte Harro, "er hat ein Kohlblatt
zwischen den Vorderpfötchen!" - Frau Ellen nickte: "Freilich, er
kommt auch eben aus des alten Kirchspielvogts Garten!" - "Harro, mein
Junge," sagte der Amtsrichter, indem er drohend den Finger gegen seine
Frau erhob; "versprich mir, diesen Hasen zu verspeisen, damit er
gründlich aus der Welt komme!" - Das versprach Harro.
Der Baum war voll, die Zweige bogen sich, die alte Margreth stöhnte, sie
könne die Leuchter nicht mehr halten, sie habe gar keine Arme mehr an
ihrem Leibe. - Aber es gab wieder neue Arbeit. "Anzünden!"
kommandierte der Amtsrichter; und die kleinen und großen Weihnachtskinder
standen mit heißen Gesichtern, kletterten auf Schemel und Stühle und
ließen nicht ab, bis alle Kerzen angezündet waren. - Der Baum
brannte, das Zimmer war von Duft und Glanz erfüllt, es war nun wirklich
Weihnachten geworden. Ein wenig müde von der ungewohnten Anstrengung
saß der Amtsrichter auf dem Sofa, nachsinnend in den
gegenüberhängenden großen Wandspiegel blickend, der das Bild
des brennenden Baumes zurückstrahlte. - Frau Ellen, die ganz heimlich ein
wenig aufzuräumen begann, wollte eben die geleerte Kiste an die Seite
setzen, als sie wie in Gedanken noch einmal mit der Hand durch die
Papierspäne streifte.
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Theodor Storm 1817 - 1888
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