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  Unter dem Tannenbaum ( 3 )
  Lächelnd - aber ein leiser Zug von Weh war doch dabei - streckte sie ihre Hände aus und zog ihren Mann und ihren Knaben, jeden bei einer Hand, in die helle Weihnachtsstube.
  Es sah freundlich genug aus. Auf dem Tische in der Mitte, zwischen zwei Reihen brennender Wachskerzen, stand das kleine Kunstwerk, das Mutter und Sohn in den Tagen vorher sich selbst geschaffen hatten, ein Garten im Geschmack des vorigen Jahrhunderts mit glattgeschorenen Hecken und dunklen Lauben; alles von Moos und verschiedenem Wintergrün zierlich zusammengestellt. Auf dem Teiche von Spiegelglas schwammen zwei weiße Schwäne; daneben vor dem chinesischen Pavillon standen kleine Herren und Damen von Papiermache in Puder und Kontuschen. - Zu beiden Seiten lagen die Geschenke für den Knaben; eine scharfe Lupe für die Käfersammlung, ein paar bunte Münchener Bilderbogen, die nicht fehlen durften, von Schwind und Otto Speckter; ein Buch in rotem Halbfranzband; dazwischen ein kleiner Globus in schwarzer Kapsel, augenscheinlich schon ein altes Stück. "Es war Onkel Erichs letzte Weihnachtsgabe an mich," sagte der Amtsrichter; "nimm du es nun von mir! Es ist mir in diesen Tagen aufs Herz gefallen, dass ich ihm die Freude, die er mir als Kind gemacht, in späterer Zeit nicht einmal wieder gedankt -; nun haben sie mir den alten Herrn im letzten Herbst begraben!"
  Frau Ellen legte den Arm um ihren Mann und führte ihn an den Spiegeltisch, auf dem heute die beiden silbernen Armleuchter brannten. Auch ihm hatte sie beschert; das erste aber, wonach seine Hand langte, war ein kleines Lichtbild. Seine Augen ruhten lange darauf, während Frau Ellen still zu ihm empor sah. Es war sein elterlicher Garten; dort unter dem Ahorn vor dem Lusthause standen die beiden Alten selbst, das noch dunkle Haar seines Vaters war deutlich zu erkennen. - Der Amtsrichter hatte sich umgewandt; es war, als suchten seine Augen etwas. Die Lichter an dem Moosgärtchen brannten knisternd fort; in ihrem Schein stand der Knabe vor dem aufgeschlagenen Weihnachtsbuch. Aber droben unter der Decke des hohen Zimmers war es dunkel; der Tannenbaum fehlte, der das Licht des Festes auch dort hinaufgetragen hätte.
  Da klingelte draußen im Flur die Glocke, und die Haustür wurde polternd aufgerissen. "Wer ist denn das?" sagte Frau Ellen; und Harro lief zur Tür und sah hinaus. - Draußen hörten sie eine raue Stimme fragen: "Bin ich denn hier recht beim Herrn Amtsrichter?" Und in dem selben Augenblicke wandte auch der Knabe den Kopf zurück und rief: "Knecht Ruprecht; Knecht Ruprecht!" Dann zog er Vater und Mutter mit sich aus der Tür.
  Es war der große bärtige Mann, der den beiden Spaziergängern vorhin oberhalb der Stadt begegnet war; bei dem Schein des Flurlämpchens sahen sie deutlich die rote Hakennase unter der beschneiten Pelzmütze leuchten. Sein langes Gepäck hatte er gegen die Wand gelehnt. "Ich habe das hier abzugeben!" sagte er, indem er auch den schweren Quersack von der Schulter nahm. - "Von wem denn?" fragte der Amtsrichter. - "Ist mir nichts von aufgetragen worden." - "Wollt ihr denn nicht näher treten?" - Der Alte schüttelte den kopf. "Ist alles schon besorgt! Habt gute Weihnacht beieinander!" Und indem er noch einmal mit der großen Nase nickte, war er schon zur Tür hinaus.
  "Das ist eine Bescherung!" sagte Frau Ellen fast ein wenig schüchtern. - Harro hatte die Haustür aufgerissen. Da sah er die große dunkle Gestalt schon weithin auf dem beschneiten Wege hinausschreiten.
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  Theodor Storm 1817 - 1888
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