Im Schnee ( 2 )
Zugleich nahm der Wind zu und begann die schon gefallenen losen Flocken
über den Boden hinzutreiben.
Als die Reisenden hinter der Brücke über die Wachnitz in den Hohlweg
gelangten, sahen sie, dass der ihnen vorangefahrene Schlitten schon seine Not
gehabt hatte, durch den hier besonders hoch aufgetürmten Schnee zu
gelangen, jedoch zum Vorteil für das folgende Gefährt, das in den
zurückgelassenen Spuren fahrend die Schwierigkeiten leichter
überwand. Endlich war das Dorf Büchtingshagen erreicht, und nun bot
der übrige Teil des Weges auf dem ziemlich hoch gelegenen Damme der
Chaussee keine besonderen Schwierigkeiten mehr. Es waren noch zwei Stunden bis
zur Ankunft des Zuges, die Herr Dieterling in dem behaglich durchwärmten
Gastzimmer der Stadt Hamburg durch ein kräftiges Frühstück
ausfüllte, während sich draußen das Schneetreiben vermehrte und
die Flocken an die vereisten Fenster prickelten. Der Wirt, nach Weise dieser
Leute so guten Kunden gegenüber ein zerfließendes Gemisch von
Wohlwollen und Hochachtung, kam mit sanften Katerschritten herbei, rieb die
Hände zart umeinander und knüpfte eine kleine Unterhaltung an
über das Schneetreiben, die Kornpreise und die ungeheure Zukunft, der das
gute Zernin durch die Anlage dieser neuen Eisenbahn entgegengehe, und war
bereit, Herrn Dieterling in jeder Hinsicht recht zu geben, wenn er auch noch
soeben der ganz entgegengesetzten Ansicht gewesen zu sein schien. Es
gehörte zu seinen Geschäftsprinzipien, immer ganz der Meinung des
geehrten Herrn Vorredners zu sein.
Auf dem Bahnhofe traf Herr Dieterling zur rechten Zeit ein, allein der mit
Weihnachtsreisenden stark besetzte Zug hatte wegen des ungewohnt großen
Verkehrs und des Schneewetters eine halbe Stunde Verspätung, und als der
Gutsbesitzer seinen Sohn aus dem Knäuel von küssenden und umarmenden
Söhnen, Töchtern, Eltern, Tanten, Onkel, Bräuten,
Bräutigämmern, Freunden und Freundinnen glücklich herausgefischt
und in den Schlitten befördert hatte, da war das Wetter draußen fast
stürmisch geworden, und der Schnee jagte durch die Straßen, als
seien die Hunde hinter ihm. Krischan begnügte sich, in einem
triumphierenden Hinblick auf Großvater Römpagels prophetische
Knochen, mit der Peitsche auf dieses Schauspiel hinzuweisen, und fort klingelte
der Schlitten durch die engen Straßen der kleinen Stadt, über deren
Giebeln der Schnee hintanzte, an deren Dachvorsprüngen er wie Rauch
entlang fegte. Auf der Chaussee, wo der Wind ringsum über freie
Feldfläche dahinjagte, konnte man kaum die Augen geöffnet halten,
denn nicht allein, dass der Schnee vom Himmel unablässig hernieder
wimmelte, nein, auch der früher schon gefallene war in Bewegung, sauste in
mächtigen Wolken über die Ebene dahin, füllte jeden Graben, jede
Vertiefung und häufte an jedem Hindernis mächtige Wehen empor.
Glücklicherweise war aber wegen ihrer erhabenen Lage auf einem Damme die
Bahn auf der Chaussee selbst glatt und eben. So gelangte man nach
Büchtingshagen, in dessen tiefer gelegenen Dorfstraße das Fortkommen
schon schwieriger ward, denn an jedem Hause, jedem Zaun, ja überhaupt
jedem geeigneten Ort hatten sich mächtige Schneewehen aufgetürmt, die
zu überwinden den Pferden manche Anstrengung kostete. Trotzdem war es an
schnell verwehenden Spuren bemerklich, dass kurz vorher ein anderer Schlitten
denselben Weg gemacht haben musste.
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Heinrich Seidel 1842 - 1906
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