Die Geschichte vom Knecht Nikolaus ( 1 )
So war nun also das Christkindlein da und wurde von Frau Holle und den Engelein
mit der größten Zärtlichkeit gepflegt. Waren sie vorher
fleißig gewesen, so wurde sie es jetzt noch viel mehr. Den ganzen Tag
arbeiten sie für das Kind, das mit erstaunlicher Schnelle heranwuchs, im
Frühjahr bereits sprechen und laufen konnte und als der Sommer herum
gegangen, schon fast so groß war, wie die Mägdlein drunten im Tal,
wenn sie das erste Mal zum Tanz unter die Linde gehen. Die Engelein fingen
Sonnen- und Mondesstrahlen, haschten die Morgennebel und die feinsten
Spinnwebe, die zu finden waren. Daraus fertigten sie Christkindskleider und
einen langen, faltigen Schleier, den sie mit glänzenden Tautropfen
bestickten. - Je mehr das Christkind heranwuchs, je schöner und lieblicher
wurde sein Angesicht, je süßer seine Stimme und je holdseliger sein
Lächeln.
Als es aber nun Herbst war, dachte Frau Holle ernstlich daran, das nun die
Weihnacht nicht mehr ferne sei und ihr liebes Kind bald hinunter auf die Erde
ziehen müsse, aber sie fürchtete sich, es so ganz allein in die
kalte, dunkle Winternacht hinaus zu schicken. Außerdem sollten ja auch
nur die guten Kinder belohnt und die bösen bestraft werden - das
Christkind war aber viel zu gut, um dies über sein Herz bringen zu
können. Es blieb nichts Anderes übrig, man musst ihm einen
Gefährten suchen, der es beschützen und auch den bösen Leuten
zugleich ein wenig Furcht einjagen konnte. -
Nachdem sich die Frau Holle dies genügsam überlegt, zog sie eines
Tages wieder ihr schönes, grünes Kleid an, setzte einen Kranz von
Astern auf und bestieg den goldenen Wagen mit den zwei schneeweißen
Kühen. Neben ihr saß das Christkindchen in einem rosenroten Gewand,
auf welches goldne Sterne gestickt waren, über dem Kopf trug es den
feinen, langen Schleier, den eine Goldkrone festhielt. sie fuhren den ganzen
Tag herum, die Kreuz und Quere, ohne dass Frau Holle fand, was sie suchte.
Endlich kamen sie gegen Abend in ein kleines, grünes Tal, durch das ein
lustiges Bächlein strömte und am Ende des Tales eine Mühle
trieb. Neben dem Bächlein saß ein Mann, der hatte langes, schwarzes
Haar, einen schwarzen Bart und ein sehr braunes Gesicht. Vor ihm lag ein Haufen
schlanker Reiser und Gerten, von denen er Besen band, und er musste sehr
fleißig gewesen sein, denn eine Menge fertiger Besen lag schon neben ihm.
Frau Holle hielt ihren Wagen an und sagte freundlich: "Guten Abend ,
lieber Mann!"
Der Mann brummte mürrisch ohne aufzusehen. "Guten Abend!"
Frau Holle ließ sich nicht abschrecken und fuhr fort: "Wie
heißest Du denn, lieber Mann?"
"Nikolaus", brummte er eben so mürrisch als zuvor, "und ich
bin auch kein lieber Mann."
Frau Holle lachte: "Warum denn nicht, wer hat Dir denn etwas getan?"
"Niemand", knurrte er wieder, "es sollte mir auch nur Einer
kommen!"
"Nun, wer sagt denn, dass Du kein lieber Mann bist?"
________________
Luise Büchner 1821 - 1877
________________
Weihnachten.mobi ist eine Textsammlung.
Aktueller Seitenbereich: Weihnachtsmärchen - Die Geschichte vom Knecht Nikolaus
________________
copyright by Camo & Pfeiffer