Der Schnee ( 5 )
Freilich, manchen habe ich auch gesehen, der freute
sich gar nicht über den Schnee. Zum Beispiel der Tannenbaum in dem Walde,
der an der Schneelast auf seinen Zweigen schwer zu tragen hatte. Oder die
Leute, denen der Schnee eine hohe Mauer vor die Tür gebaut hatte, so dass
sie gar nicht herauskommen konnten. Und dann die, denen der Sturm soviel Schnee
in die Augen blies, dass sie gar nicht sehen konnten."
In diesem Augenblick kam die Sonne hinter den Wolken hervor.
"Uff!" machte der Schneemann auf einmal, "da ist sie. Nun ist es
aus mit mir, ihr werdet es gleich sehen."
Sie sahen aber zuerst gar nichts, als dass auf einmal aller Schnee ganz
wunderschön in der Sonne glitzerte. Es war eine wahre Pracht, die die
Sonne da hervorgezaubert hatte. "Traut ihr nicht", sagte der
Schneemann, "die Herrlichkeit wird gleich zu Ende sein. Oh, wäre ich
doch mit der Wolke fortgezogen, weiter zu den hohen Bergen hin, wo es so
herrlich kalt ist, dass die Schneeflocken nicht in der Sonne zu sterben
brauchen, sondern in Eis verwandelt werden und ewig leben."
So sprach der Schneemann.
Aber was war denn das? Der ganze Garten weinte ja auf einmal! Von jedem
Strauch, von jedem Zaunpfahl, von der Laube und von der Pumpe fielen
große Tropfen herab in den Schnee, und jeder machte ein Loch hinein.
Weinten sie alle, weil der Schneemann vom Sterben sprach, der Schneemann, der
ihnen so hübsch erzählt hatte?
Ach nein - es war Tauwetter eingetroffen, das war`s. Immer mehr Sonnenstrahlen
kamen, und jeder schmolz ein bisschen von dem Schnee hinweg, jeder ließ
ein Stückchen Herrlichkeit zerfließen.
Und gerade, als sie am allerschönsten war!
Aber so geht es ja immer.
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Sophie Reinheimer 1874 - 1935
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