Der Mistelbusch ( 4 )
Darauf wurde ein großer Mistelbusch mit ein paar Stechpalmen und
Tannenzweigen zusammen in eine Kristallschale mit Wasser gesteckt.
Das hatte der grüne Tannenbaum mit angesehen. "Was hast du hier zu
schaffen - du Unkraut?" fragte er; es klang nicht allzu freundlich.
"Ich bin eine Heilige," sagte die Mistel. "Die
Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßväter der Menschen hier haben mich heilig
gesprochen, und ich habe an Weihnachten eine heilige Pflicht zu
erfüllen."
"Du?" fragte sehr erstaunt der Tannenbaum - "Ich! Ich habe mich
im Walde abhauen lassen und bin hierher gekommen, um in meinem immergrünen
- hörst du wohl? auch im Winter noch grünen Kleide - den Menschen von
einer großen, großen Liebe zu erzählen. Von einer Liebe, die -
wie ich - immer frisch und grün bleibt; die immer da ist, selbst im kalten
Winterschnee. Meine Kerzen werden dir heute Abend schon sagen, wie strahlend
diese Liebe leuchtet. So strahlend wie das Sonnenlicht, das nun bald die dunkle
Winternacht durchbrechen wird."
Die Mistel schwieg eine Weile. "So - auch du sollst vom Sonnenlicht
erzählen?" fragte sie. Du - ich glaube aber, bei dir denken die
Menschen doch mehr an die große Liebe! Die Sonnenstrahlen haben mir das
einmal erzählt, Und so können wir unsere Pflichten ganz gut zusammen
erfüllen. Sollst du von Liebe reden ich habe den Auftrag, die Menschen
daran zu erinnern, dass nun die längste Nacht vorüber ist, dass Frau
Sonne sich nun wieder der Erde zuwenden und jeden Tag ein bisschen länger
und wärmer scheinen will. Dass sie schon ganz, ganz bald wieder anfangen
will, die Saftfässer der Bäume zu füllen und dann die ersten
Blumen - die Schneeglöckchen - aus ihren Bettchen herausholen will. Ist
das nicht eine große Freude? Die Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßväter der
Menschen hier feierten um diese Zeit ein großes Fest - das Fest der
Sonnenwende. Aber wer denkt heute noch daran? Nur sehr, sehr wenige! Über
dich - den Christbaum - werden hundert Geschichten geschrieben. Über mich
nur ganz, ganz selten mal eine. Siehst du: und das ist meine Pflicht, die
Menschen an das Fest der Wintersonnenwende zu erinnern! Und wenn du von so
großer Liebe sprichst, so darfst du auch die
Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßväter nicht vergessen."
Auf diese Rede konnte der Christbaum freilich nichts erwidern.
AIs er aber am Abend - geschmückt mit Papierrosen, Sternen, Herzen, Ketten
und goldenem Engelshaar dastand, als seine Lichter strahlten und die
Weihnachtsglocken läuteten - - - da sagte er: "Wohlan, liebe
Schwester - lass uns einig zusammen den Menschen ein fröhliches
Weihnachten und Fest der Wintersonnenwende schenken!" - - -
Zu gleicher Stunde aber flog vom Himmel herab ein gar reizendes Englein. Seine
weißen Flügel und seine blonden Löckchen schimmerten hell durch
die Dunkelheit. Es flog über den Kirschbaum auf der Allee hinweg und
setzte sich auf den wilden Apfelbaum im Felde. Gerade auf die Stelle, wo der
große Mistelbusch gesessen hatte, hockte es sich hin.
"Ich soll dich grüßen von der Sonne und den
Sonnenstrahlen", sagte es. Und dann hob es sein Geiglein und spielte dem
Baum eine ganz wunderliebliche, leise, süße, weiche
Weihnachtsmelodie.
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Sophie Reinheimer, 1874 - 1935
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