Wir sind zwar nicht in Engeland,
Doch sehn wir gar nicht ein:
Warum darf unterm Mistelbusch
Nicht hier ein Kuss auch sein?
Darum, du lieber Apfelbaum:
Vertreib die Mistel nicht!
Bedenke, dass manch Engelgruß
Mit ihr von dannen fliegt!"
"Engelgruß?" dachte der Baum. "So. Der Kuss ist also ein
Gruß aus dem Engelland!" Und dabei gedachte der wilde Apfelbaum der
warmen, zärtlichen Küsschen der Sonnenstrahlen.
Das Lied gefiel ihm, und er nahm sich vor, in Zukunft nicht mehr so schrecklich
über seine Mistelgäste zu schelten. - - -
Inzwischen war es Herbst geworden. Vögel kamen, die brachten dem Baum
keine Ständchen, sie machten sich nur über einige von den
schönen, weißen, klebrigen Mistelbeeren her. So geht's in der Welt -
einer zehrt immer vom andern und sagt meist nicht einmal "danke
schön".
"Wünsche wohl gespeist zu haben. Und - hm! hm!" lachte der wilde
Apfelbaum - "wohl bekomm's den Nachbarn!"
Die Vögel - Drosseln, Amseln waren es - wussten bestimmt nicht, dass man
aus den Beeren der Mistel Vogelleim macht! Sonst hätten sie sich sicher
gehütet, ihre klebrig schmutzigen Schnäbel just an den Baumzweigen
abzuputzen und so die klebrigen Samen dort anzupflanzen! -
Es ist wahr: Die Herbststürme machten den Mistelbüschen gar nichts
aus! Sie wussten ihre Blätter je nach ihm zu drehen wie die Wetterfahnen.
Auch die Kälte nachher schadete ihnen nichts. Aber! "Unkraut vergeht
nicht" wagte der Apfelbaum doch nicht mehr recht zu sagen.
Es lag jetzt ein seltsames Träumen über diesen Gästen! Besonders
an kalten Nebelabenden konnte man es gewahren. Nie ein schwacher, goldner
Lichtschein lag es da über den Mistelbüschen. Vierzehn Tage vor
Weihnachten kamen zwei Männer von der Allee herüber; die trugen eine
Leiter, Körbe und ein scharfes Messer. Ritschratsch - war der
Apfelbaumwirt seine lästigen Gäste los.
"Ob sie nun nach Engelland kommen?" dachte er.
Aber die Mistelbüsche kamen nicht nach Engelland - sie kamen in eine
große, deutsche Stadt. Dort wurden sie in ein Körbchen gesteckt,
neben rote Stechpalmen, und von einer Frau an einer Straßenecke zum
Verkauf angeboten. Wie war ihnen - die bisher so ruhig und einsam auf freiem
Felde gewohnt hatten - bei dem wüsten Straßenlärm zumute!
"Mistelzweige - wer kauft schöne Mistelzweige und Stechpalmen?"
rief die Frau und bot den Vorübergehenden ihre Ware an. Die musste wohl
gefallen, denn schon bevor der Abend kam, war das Körbchen der Frau
geleert.
Die Mistelzweige und -büsche waren nun in viele Häuser verstreut.
"Wie eigenartig vornehm sie doch aussehn!" sagte eine Dame.
"Diese feingrünen, schlanken Blätter - die mattschimmernden
weißen Beeren! Nun ja; sie sind ja auch in einer Krone geboren! Beinahe
sehen sie selbst aus wie eine gezackte kleine Krone. Die weißen Beeren
sind die Perlen darin."