Weihnachten bei Theodor Storm ( 2 )
Wenn wir in ein bestimmtes Alter gekommen waren, durften wir vergolden helfen
und Netze schneiden. Die langen schmalen Streifen Rauschgold wurden freilich
nur von unserm Vater geschnitten, mit seiner großen alten Papierschere,
die ich so deutlich vor mir sehe. -
Morgen ist heute geworden, und Vater nimmt uns mit in seine Studierstube. Die
dunkle Holztäfelung der Decke, die tiefrote behagliche Färbung der
Wände, an denen ringsum die Bücherregale laufen, und über dem
Tische die helle leuchtende Lampe schauen uns behaglich und gar
verheißungsvoll an. Auf dem Tisch ausgebreitet liegen Nüsse,
Tannenzapfen, Eier und Schaumgold. Wir setzen uns alle um den Tisch und
beginnen nach Vaters Anordnung Watte in Eiweiß zu tauchen, mit der wir
vorsichtig die Nüsse und Tannenzapfen betupfen. Dann wird ein Stück
Schaumgold auf die befeuchtete Stelle gelegt und vorsichtig mit Watte
angetupft. Nun werden zwölf Netze vom feinsten weißen Konzeptpapier
geschnitten. Uns Kinder klopft das Herz dabei: "wenn wir nun die Spitzen
abschneiden!" In die Netze kommen große, viereckige Bonbons, die wir
alter Tradition gemäß in farbige Papiere wickeln, die durchaus die
Farben: grün, gold und hausrot haben müssen.
Auf diese Netze in denen schon feine Kinderträume hingen, legte unser
Vater besonderen Wert. Wer von uns zum erstenmal in seinem kleinen Leben ein
solches wunderbares Netz tadellos ausgeführt hatte, kam sich vor, als sei
er nun erst ein fertiger kleiner Mensch geworden.
Die weißen Netze sind geschnitten und tadellos zu unseres Vaters
innigster Befriedigung ausgefallen. Goldene Nüsse, Eier und Tannenzapfen
heben sich leuchtend von der dunklen Tischplatte ab. Wir Kinder stehen
ermüdet und wollen zu Bett gehen. Vater tritt ans Fenster, öffnet
weit beide Flügel. - Der Mond scheint, und wir Kinder sehen deutlich
zwischen Vaters ausgebreiteten Armen in den beschneiten Garten. Da spricht
Vater mit leiser, wie von Musik getragener Stimme:
"Mondbeglänzte Zaubernacht,
die den Sinn gefangenhält,
wunderbare Märchenwelt,
steig' auf in der alten Pracht."
Wir gehen still und nehmen den Zauber dieser Stimmung mit in unsere
Träume, aus denen wir mit dem seligen Bewusstsein erwachen: "Heute
ist er, der Heilige Abend." Nun beginnt ein buntes Treiben im Hause. Vater
trägt alle seine Schätze selbst ins Weihnachtszimmer, in dem die
zwölf Fuß hohe Tanne schon ihres Schmucks wartet. Wir Kinder
schmücken in unserer Kinderstube ein kleines, bescheidenes Bäumchen
für arme Kinder. Wir haben ihn von unserem eigenen Gelde erstanden. Vater
und Mama schließen sich unten ins große Weihnachtszimmer ein,
gleich wenn man in den Flur tritt links, und der Märchenbaum fängt an
sich zu entfalten. Die Brüder Hans und Ernst kommen heim und Karl, unser
stiller Musikant. Heute muss Vater alle seine Kinder um sich versammeln haben,
um ein rechtes Weihnachtsgefühl zu empfinden. Die Fenster der
Weihnachtsstube sind dicht verhangen, die vielen Türen, die ins Reich der
Weihnachtswunder führen, verschlossen.
Wir schleichen an die Fenster und knien vor den Türen. Meine jüngste
Schwester Dodo hat ein besonderes Talent, mit unserer Mutter, verborgen in den
Falten ihres Kleides, in die Weihnachtsstube zu schlüpfen.
________________
Gertrud Storm 1865 - 1936
________________
Weihnachten.mobi ist eine Textsammlung.
Aktueller Seitenbereich: Weihnachtsgeschichte - Weihnachten bei Theodor Storm
________________
copyright by Camo & Pfeiffer