Weihnachten bei Theodor Storm ( 3 )
Vom frühen Morgen an kommen Scharen von Kindern, die von Haus zu Haus
ziehen und im Flur ihre hellen Kinderstimmen ertönen lassen: "Vom
Himmel hoch da komm' ich her." Ein großer Korb mit Wasserkringel
steht schon bereit, mit denen die kleinen Sänger belohnt werden. Mittags
wird nach althergebrachter Sitte Kaffee getrunken und Butterbrote gegessen. Der
Kaffeekanne entströmt an diesem Tage ein wundersamer Duft, so duftet er
nur einmal im Jahr, und die Butterbrote schmecken uns wie der schönste
Kuchen.
Am Nachmittag wandern wir Kinder, jedes ein Körbchen am Arm, ins Kloster
St. Jürgen. wir wollen zwei alten Großtanten dort bescheren,
"Tante Anna und Tante Christine". Tante Anna wird von uns bevorzugt.
In ihrem kleinen, behaglichen Altjungfernstübchen liegen wir
schließlich auf der Erde vorm offenen Ofen und schauen in die rote Glut
der verglimmenden Kohlen. Die liebe, alte Tante sitzt im alten Lehnstuhl neben
uns, ihr feines altes Gesicht von einer weißen Spitzenhaube umrahmt. sie
erzählt uns altmodische Kindergeschichten, an die sich immer eine Moral
knüpft. Wir hören interessiert zu, knacken dabei Nüsse und
werfen die Schalen in die rote Glut - das knistert so schön. - So vergeht
die Zeit - vom Kirchturm drüben schlägt es halb fünf. Tante Anna
hüllt uns sorgsam in unsere warmen Mäntel und Kapuzen, und fort geht
es.
Auf den Straßen liegt tiefe Dämmerung, der Schnee knirscht unter
unseren Füßen. Schwärme von Kindern begegnen uns, hier und dort
dringt aus einer geöffneten Haustür Gesang zu uns heraus. Wir fassen
uns an den Händen und laufen und kommen atemlos heim. Im Flur bleiben wir
stehen und singen, als gehörten wir zu den Sängern. Die Köchin
kommt aus der Küche gelaufen mit den üblichen Wasserkringeln. Sie
jagt uns lachend und scheltend in die Kinderstube. Wir werden nun festlich
geschmückt und gehen dann in die Studierstube unseres Vaters, wo wir schon
unsere Großmutter mit ihrer getreuen Lebensgefährtin, von uns
"Tante Tine" genannt, und zwei alte Freunde des Hauses in behaglichem
Geplauder vorfinden.
Seit dem Tode unseres Großvaters schaut Großmutter unserer
Bescherung zu. Großvater war zwar niemals bei der Bescherung zugegen,
aber wir wussten doch, er saß währenddessen behaglich in seinem
Kontor und freute sich über die kleinen Sendungen an Geld und Viktualien -
meistens - meistens ein großes Stück Rauchfleisch - die er von dort
aus an Kinder und Schwiegerkinder gespendet hatte.
Nun auch er in das Land der Vergangenheit gegangen ist, lässt die bunte
Kinderfreude diesen Abend der Erinnerung sanft für unsere Großmutter
vorübergehen.
Endlich ertönt der Klang der silbernen Glocke. Wir stürzen die Treppe
herunter, die Flügeltüren fliegen auf, wir treten ein, jung und alt.
Ein starker Duft von Tannen, brennenden Lichtern und braunen Weihnachtskuchen
schlägt uns entgegen - und da steht er, der brennende Baum, im vollen
Lichterglanz. Ich will ihn mit meines Vaters eigenen Worten schildern:
"Mit seinen Flittergoldfähnchen, seinen weißen Netzen und
goldenen Eiern, die wie Kinderträume in den dunklen Zweigen
hängen." - Oder wie er in einem Brief an Freund Keller geschildert
wird: "Der goldene Märchenzweig, dito die Traubenbüschel des
Erlensamens und große Fichtenzapfen, an denen lebensgroße
Kreuzschnäbel von Papiermache sich anklammern.
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Gertrud Storm 1865 - 1936
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