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  Weihnachten an der Linie ( 1 )
  Der 24. Dezember stieg herauf mit Sonnenschein und Himmelblau. Fast wie ein Frühlingstag war er gestaltet, - so warm lag das Licht auf dem tiefblauen Bergsee, der leise ans Ufer spülte. Freilich schauten auch jetzt die Bergwände herunter in blendendem Weiß. Tief und dicht hüllte der Schneemantel die Erde ein. Kaum guckten die braunen Häuschen aus der Decke hervor; die Tannenäste hingen schwer und müde herunter, die Hecken und Pfähle lagen tief vergraben; - weiß die Hänge, weiß der Talgrund, weiß die Bergköpfe, - blau der Himmel und blau der See. Nur eine Linie unterbrach die Farbenreihe, eine schwarze, schmale Linie, die schwarze Schienenlinie, die sich dem Seeufer nachschlängelt, sich in den Felsen hineingezwängt und in tiefen Tunnels durch den Felsen durchgebohrt hat. Auf dieser schwarzen Linie saust der Bahnzug durch die Stille, unter den mächtigen Bergen durch, überspringt den tosenden Wassersturz und berührt fast die schäumenden Wellen.
  Dort an der schwarzen Linie steht einsam ein kleines braunes Bahnwärterhäuschen. Im Sommer ist's freilich ein lieblich Fleckchen Erde, wenn die Rebe grünend ums Fenster rankt und die prächtigen Pfirsichbäume ihren feinen Blätterschmuck über das Dach breiten; - aber im Winter, da liegt es allein, zwanzig Minuten von M. und ebensoviel von der Station H. entfernt. - Eben kommt der Bahnwärter Hartmann von seinem Amtsgang zurück. Er klopft die großen Schneeklumpen von den Füßen, schaut die Bergwand entlang zum Himmel und ruft: "Mutter, komm mal heraus und schau den Himmel an. `s ist Föhn in der Luft, wenn's nur kein Unglück gibt!" - Die Frau kommt aus der Küche, in der sie am Feuer gewaltet. "Ja, ich hab's schon gemerkt, dass es heut außergewöhnlich war ist. Es drückt mir auch allen Rauch in den Kamin zurück; aber ein Unglück braucht's deshalb doch nicht zu geben, fürchte nichts! Heut ist ja Christabend, da darf sich jeder freuen." Damit strich sie dem Manne die Falten von der Stirn und lockte ihn freundlich zum warmen Herd. Er folgte so gern. Ihm war sein kleines Heim ein kostbarer Besitz. Dort hatte er seine frische, fröhliche Frau, die immer zu trösten musste und nie murrte oder klagte, dort seine drei Töchterlein, rotbackig und blondhaarig, die alle ihn anlachten. Eben kamen sie daher gesprungen, Frieda, Lydia und Martha, und meldeten: "Mutter, der Tisch ist gedeckt und alles bereit!" Aber mitten im fröhlichen Geplauder am Frühstückstisch konnte der Vater die Sorge nicht verscheuchen, immer hörte sein Ohr ein pfeifendes Sausen, immer irrte sein Auge zum Himmel hinauf.
  Bald rief ihn sein Amt wieder hinaus auf die Linie. Der Blitzzug brauste eben aus dem Tunnel heraus, der einige hundert Schritt entfernt sich öffnete, dann im Nu am Häuslein vorüber, und fort war er. Im Häuslein aber regte sich's lebhaft. die drei Mädchen hatten eifrig zu wischen und abzustauben, Tassen zu trocknen und in den kleinen Schrank zu tragen. Dabei ging das Zünglein wie ein Rad rundum. Das schwirrte und fragte und lachte beständig. "Mutter, wann zünden wir an heut Abend?" - "Mutter, wo hast du die Tanne versteckt?" - "Mutter, was bringt mir's Christkindlein? - So ging's hin und her, und die Mutter hatte viel zu wiederholen, was sie schon hundertmal gesagt: "Am Abend, wenn der Schnellzug von X. vorbei ist, dann zünden wir an, dann hat der Vater Ruhe und kann bei uns sitzen und den neuen Tabak probieren, den ihm's Christkind beschert." - Frieda und Lydia hatten auch ein Geheimnis auf dem Herzen.
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  Dora Schlatter 1855 - 1915
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