Weihnachten an der Linie ( 4 )
Die Freude zieht so gern wieder ein
ins Menschenherz und vertreibt Kummer und Tränen. "Mutterchen, eine
Puppe! Schöne, süße, liebe Puppe!" jubelte es durch den
Raum, und Martha herzt und küsst ihr neues Kleinod. - Lydia und Frieda
strecken der Mutter ihr Bildchen entgegen. Sie fühlen's, dass sie sie
trösten müssen darüber, dass die Socken so allein liegen und
niemand den guten Tabak rühmt. Die Mutter lächelt und küsst sie.
- "Nun aber singen wir, ehe die Lichtlein kleiner werden. Zuerst
gehört dem Christkind unser Dank!" Frieda und Lydia singen
fröhlich und hell hinaus:
Sei uns mit Jubelschalle
Christkindchen heut gegrüßt!
Wie freuen wir uns alle,
Dass dein Geburtstag ist!
Für uns zur Welt geboren,
Lagst du auf Heu und Stroh,
Sonst wären wir verloren,
Nun aber sind wir froh
Die Mutter hat Marthchen an der Hand gefasst und singt leise mit. Eine
Träne glänzt in ihrem Auge. Draußen liegt es ja so deutlich
heute Abend, dass wir "verloren" wären ohne Gottes treue Sorge
und sein Erbarmen! - Da quoll der Dank um so tiefer herauf aus ihrem Herzen.
Und nicht nur aus irdischer Not rettet er uns, - nein, er schenkt uns ewiges
Leben! Sollte das nicht froh machen, von Herzen froh? Leise hatte sich
während des Singens die Tür geöffnet - Kopf an Kopf drängte
herein durch die Spalte. Der Lichtglanz war hinausgedrungen zu den wartenden
Reisenden und hatte sie herbeigelockt. Wer mochte nicht gern einen Lichterbaum
sehen? - Da standen sie nun bald alle in der kleinen Stube; der rußige
Heizer, der Maschinenführer mit dem Adlerauge, der reisende Kaufmann, der
flotte Student, welcher in die Ferien zog, der Arzt auf Berufswegen, der
Offizier, der Urlaub hatte, der Bauersmann, der vom Markte kam - eine
große, zusammengewürfelte Gesellschaft. Sie kannten sich nicht,
hatten sich nie gesehen, - aber in ihrer Mitte brannte das Weihnachtslicht,
für alle entzündet, allen Friede bringend. "Wir wollen eins
singen, das alle können", tönte es da aus dem Hause, und gleich
darauf stimmte ein kraftvoller Tenor an: "O du fröhliche, o du
selige, gnadenbringende Weihnachtszeit." - Wer wollte das nicht
können! Das sang, das klang, als wollte es die engen Wände
zersprengen! Und es drang hindurch, es zog hinaus über die Stille des
Sees, hinauf zu den Höhen, da sein Auge wacht und sein Ohr offen steht
für das Bitten und Danken des Menschenherzens. Manch Herz zitterte noch im
Singen, wenn es der Gefahr gedachte, der es entronnen. Erst als sie
hinüberstiegen über die Trümmerhaufen auf der Linie, als sie
hinüberblickten in die tiefe dunkle Seeflut - erst dann hatten die
Reisenden begriffen, was ihnen gedroht, und wem sie entronnen. Da hatte das
Murren aufgehört und sich gewandelt in Dank. Darum klang's so hell und
froh durch die stille Nacht. -
Als Hartmann mit einer großen Mannschaft mit Schaufel und Pike
zurückkehrte, da fand er in seiner Stube eine große,
einträchtige Familie.
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Dora Schlatter 1855 - 1915
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