Weihnachten.mobi

  Weihnachten an der Linie ( 2 )
  Jede hatte dem Vater eine Socke gestrickt, - ach, war das eine Arbeit für siebenjährige Finger mit so groben Nadeln! Aber jetzt lag das Paar warm und wohlig im Schrank. Wie wird der Vater sich freuen! - Und der Mutter hatten sie ein Bildchen gekauft, das sollte Mutters Gesangbuch schmücken, wenn sie zur Kirche ging! Das große Geheimnis war kaum mehr zu bewahren, und der Abend noch so fern! - Manchmal sind die Tage wirklich extra lang.
  Jedes Kind hatte der Mutter einen Herzenswunsch in's Ohr gesagt. Martha hatte dringend eine Puppe gewünscht, der alten hing der Kopf wie ein geknicktes Rohr. Sie war von der Mutter selbst gemacht; auch der Kopf. Er war von weißem Zeug gebildet, das Gesicht schön angemalt und mit Kleie gefüllt. nun war auch dem Hals die Kleie verloren gegangen, und das arme Gebilde sah allzu betrübt aus. Selbst die zärtlichste Mama konnte das Kind nicht mehr schön finden. Unter dem Christbaum sollte ein neuer Pflegling liegen. Die gute Mutter hatte gespart und gesorgt. Sie wollte ihren Kleinen so gern eine Freude machen, eine recht tiefe, volle. Sie wusste von ihrer eigenen Kindheit her, welch hellen Glanz ein seliges Weihnachtsfest ergießen kann über den ganzen Winter. Frieda und Lydia sind schon vernünftiger. Ihre höchste Sehnsucht ist eine neue Schürze, ein Schreibheft und ein Bleistift. All das liegt bereit. Der Tag zieht vorüber in froher Erwartung, in festlicher Vorfreude. Der Himmel hat sich mit weißen Schäfchen bedeckt, die am Abend rosig erglühen. Den See hat kein Windhauch gekräuselt. Die frühe Nacht kommt mit ihrem Dunkel und ihrer Stille, die weihevolle Christnacht. -
  "Mutter, ist's bald Zeit? - Mutter, wann kommt's?" - so klagt Martha fast in weinerlichem Ton.
  "Bald Kind, sehr bald, Kind, sehr bald, - jetzt ist's sieben Uhr, noch ein halbes Stündchen und der Schnellzug geht vorüber. Steig du mit den Schwesterlein in die Kammer hinauf und wart' droben, dann huscht das Christkind in die Stube und macht alles bereit, bis der Vater kommt."
  Die drei ließen sich das nicht zweimal sagen. Heute war's auch nicht kalt in der Kammer wie sonst. Die Mädchen fassten sich an der Hand und standen am Fenster. sie sahen wie der Vater mit der hellen Laterne die Linie entlang ging und im Dunkel des Tunnels verschwand. Sie warteten, bis er herauskam und nun näher und näher schritt. Schon war er an der Haustür, jetzt in der Küche. Juchhe, nun geht's los! Die Kinder tanzten und zappelten. - Da plötzlich tönt ein Brausen durch die Luft, ein Krachen und Tosen, das Häuschen zittert und bebt. - Die Kinder schrieen laut auf, dann rannten sie die Treppe hinunter. Totenbleich standen Vater und Mutter unter der Tür. Ein mächtiger Schneeberg türmte sich kaum hundert Schritte vor dem Häuschen auf. Wie auf einer Rutschbahn war eine Schneemasse den Berghang heruntergekommen, Felsblöcke, Geröll und mächtige Tannen mit sich reißend. Die eine Tanne lag quer über der Schiene, - die andere streckte ihr gewaltiges Wurzelwerk darüber hin, - dazwischen, in Klumpen geballt, Schnee und Steinmasse. die Mutter bebte.
  "Ein paar Minuten später, und du wärst getroffen worden!" sagte sie und suchte ihres Mannes Hand. "Gott sei Dank!"
  Der Mann aber fand die Besinnung wieder und den klaren Überblick. "Um Gotteswillen, Frau, in fünf Minuten kommt der Schnellzug von H. her! - Wenn's nur nicht zu spät ist! Wenn er aus dem Tunnel fährt, ehe er mein Signal gesehen - ist er verloren! Dort gähnt der See! - Schnell die Laterne und dann hinaus! Es gilt Menschenleben!"
________________
weiter - 1 2 3 4 5
 
  Dora Schlatter 1855 - 1915
________________
zurück

Weihnachten.mobiWeihnachtsmärchen
Weihnachtsgeschic...
Weihnachtsgedichte
Weihnachtslieder

Weihnachtssprüche
Weihnachtsgrüße

Mobi - Seiten

Weihnachten.mobi ist eine Textsammlung. Aktueller Seitenbereich: Weihnachtsgeschichte - Weihnachten an der Linie

Impressum
________________
copyright by Camo & Pfeiffer