Weihnachten an der Linie ( 3 )
Er fasste seine Leuchte und stürzte fort. Atemlos sah ihm die Frau nach.
Heute in der Christnacht ein Unglück - es sollte, es durfte nicht sein! -
Sie zog ihre Kinder an sich, die ängstlich hinausblickten und den
Christbaum vergessen hatten. Sie schauten, wie der Vater bis tief über die
Knie im Schnee versank, wie er mühsam über den Stamm der Tanne
kletterte und dann in der Tiefe verschwand. - Dem Mann dort draußen aber
pocht das Herz. Er strebt voran, so schnell er kann, - er fühlt das
Zittern des Bodens vom heranbrausenden Zug, - jetzt weiß er, er hat den
Tunnel erreicht, - er rennt, was er kann, - hier eine Alarmpatrone auf die
Schiene legend, und dort wieder eine. Sie wird platzen im letzten todbringenden
Augenblick. Er schwenkt die Laterne. Sieht man ihn? Nein, der Tunnel verdeckt
ihn noch! Er erreicht den Tunnel - gottlob - da blitzen die feurigen Augen der
Lokomotive ihm entgegen, da schnaubt es neben seinen Ohren - ein Knall - ein
Sumsen und Bremsen - der Maschinist hat ihn gesehen und verstanden. - Die
Maschine steht hart unterm Tunnelloch. - Eine Minute später und es
wäre zu spät gewesen! "Was ist? Was gibt's?" tönt's
von der Maschine her. Der Zugführer kommt dahergesprungen. Die
Wagenfenster fliegen auf. "Was ist? Was gibt's? Warum bleiben wir
stehen?" So tönt's von allen Seiten. Hartman berichtet dem
führenden Personal den Vorfall. Sie steigen ab. Da überblicken sie
die Gefahr, der sie entgegenfuhren und der sie entronnen.
Was nun tun? - Eine kurze Beratung führt zum Beschluss: hinüber zum
Bahnwärterhäuschen, dort signalisiert man nach der Station M. - Es
ist am besten, man wartet den Güterzug ab, der um neun Uhr von M.
herüberfährt, und wechselt die Passagiere. - Die Belastung der Linie
ist zu groß, als dass sie in kurzer Zeit freigemacht werden könnte.
-
"Und die Passagiere in den Wagen?" - "Die können dort
bleiben und schlafen, oder aussteigen und herumgehen!" war die Antwort des
Zugführers. Die einen schimpften, - die andern dankten im stillen für
die Bewahrung. Es war ja freilich allen ein Strich in der Rechnung, - auf viele
wartete der warme, heimische Herd, vielleicht der brennende Weihnachtsbaum.
Aber hier galt es, sich still zu schicken in das, was ein höherer Wille
verfügt hatte. - "Dort drüben ist mein Haus, Sie finden dort
eine warme Stube", sagte Hartmann zu den ausgestiegenen Reisenden. Dann
schritt er zurück zum Häuschen. Wie leicht ging's jetzt über die
Tanne und durch den Schnee! Das Zittern seines Herzens hatte aufgehört. Es
war ihm eigentlich fröhlich im innersten Kämmerlein. Kein
Menschenleben war verloren! -
"Mutter zündete den Baum für die Kinder an. Ich muss leider
hinunter nach M. und den Stationsvorstand benachrichtigen. Es müssen Leute
her zu Arbeit." - Als er das betrübte Gesicht der Frau sah, sagte er
tröstend: "Dienst ist Dienst, liebe Frau. Freu' dich, dass uns Gott
behütet hat und so viele mit uns." Dann küsste er sie und eilte
der Linie entlang nach M. - Die Mutter seufzte. Ihr war's gar nicht
christabendlich ums Herz, und nun sollte sie anzünden. Aber da saßen
ihre drei Kleinen so still und betrübt, Martha weinte sogar leise. Da
raffte sie sich auf. Und es ist dennoch Weihnachten, und ich sollte danken,
statt murren! Kommt Kinder, wir zünden die Lichter an." - Bald
flammten sie auf. Wie Sternlein flimmerten sie durchs Dunkel. Nach und nach
leuchteten auch die Augen der Kinder auf.
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Dora Schlatter 1855 - 1915
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