Marthe und ihre Uhr ( 1 )
Während der letzten Jahre meines Schulbesuchs wohnte ich in einem kleinen
Bürgerhause der Stadt, worin aber von Vater, Mutter und vielen
Geschwistern nur eine alternde, unverheiratete Tochter zurückgeblieben
war. Die Eltern und zwei Brüder waren gestorben, die Schwestern bis auf
die jüngste, die einen Arzt am selbigen Ort geheiratet hatte, ihren
Männern in entfernte Gegenden gefolgt. So blieb denn Marthe allein in
ihrem elterlichen Hause, worin sie sich durch das Vermieten des früheren
Familienzimmers und mit Hilfe einer kleinen Rente spärlich durchs Leben
brachte. Doch kümmerte es sie wenig, dass sie nur Sonntags ihren
Mittagstisch decken konnte; denn ihre Ansprüche an das äußere
Leben waren fast keine; eine Folge der strengen und sparsamen Erziehung, die
der Vater sowohl aus Grundsatz als auch in Rücksicht seiner
beschränkten bürgerlichen Verhältnisse allen seinen Kindern
gegeben hatte. Wenn aber Marthen in ihrer Jugend nur die gewöhnliche
Schulbildung zuteil geworden war, so hatte das Nachdenken ihrer späteren
einsamen Stunden, vereinigt mit einem behänden Verstande und dem
sittlichen Ernst ihres Charakters, sie doch zu der Zeit, in der ich sie kennen
lernte, auf eine für Frauen, namentlich des Bürgerstandes,
ungewöhnlich hohe Bildungsstufe gehoben. Freilich sprach sie nicht immer
grammatisch richtig, obgleich sie viel mit Aufmerksamkeit las, am liebsten
geschichtlichen oder poetischen Inhalts: aber sie wusste sich dafür
meistens über das Gelesene ein richtiges Urteil zu bilden und, was so
wenig gelingt, selbständig das Gute vom Schlechten zu unterscheiden.
Mörikes "Maler Nolten", der damals erschien, machte großen
Eindruck auf sie, so dass sie ihn immer wieder las; erst das Ganze, dann diese
oder jene Partie, wie sie ihr eben zusagte. Die Gestalten des Dichters wurden
für sie selbstbestimmende lebende Wesen, deren Handlungen nicht mehr an
die Notwendigkeit des dichterischen Organismus gebunden waren; und sie konnte
stundenlang darüber nachsinnen, auf welche Weise das hereinbrechende
Verhängnis von so vielen geliebten Menschen dennoch hätte abgewandt
werden können.
Die Langeweile drückte Marthen in ihrer Einsamkeit nicht, wohl aber
zuweilen ein Gefühl der Zwecklosigkeit ihres Lebens nach außen hin;
sie bedurfte jemandes, für den sie hätte arbeiten und sorgen
können. Bei dem Mangel näher Befreundeter kam dieser löbliche
Trieb ihren jeweiligen Mietern zugute, und auch ich habe manche Freundlichkeit
und Aufmerksamkeit von ihrer Hand erfahren. - An Blumen hatte sie eine
große Freude: und es schien mir ein Zeichen ihres anspruchslosen Sinnes,
dass sie unter ihnen die weißen und von diesen wieder die einfachen am
liebsten hatte. Es war immer ihr erster Festtag im Jahre, wenn ihr die Kinder
der Schwester aus deren Garten die ersten Schneeglöckchen und
Märzblumen brachten; dann wurde ein kleines Porzellankörbchen aus dem
Schranke herab genommen; und die Blumen zierten unter ihrer sorgsamen Pflege
wochenlang die kleine Kammer.
Da Marthe seit dem Tode ihrer Eltern wenig Menschen um sich sah und namentlich
die langen Winterabende fast immer allein zubrachte, so lieh die regsame und
gestaltende Phantasie, die ihr ganz besonders eigen war, den Dingen um sie her
eine Art von Leben und Bewusstsein. Sie borgte Teilchen ihrer Seele aus an die
alten Möbel ihrer Kammer, und die alten Möbel erhielten so die
Fähigkeit, sich mit ihr zu unterhalten; meistens freilich war diese
Unterhaltung eine stumme, aber sie war dafür desto inniger und ohne
Missverständnis.
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Theodor Storm 1817 - 1888
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