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  Marthe und ihre Uhr ( 3 )
  Meine Schwester schickte gestern wohl zu mir, und als es dunkel wurde, dachte ich wohl daran, einmal hinzugehen; aber - die alte Uhr war auch wieder so drollig; es war akkurat, als wenn sie immer sagte: Tu es nicht, tu es nicht! Was willst du da? Deine Weihnachtsfeier gehört ja nicht dahin!" Und so bleib sie denn zu Haus in dem kleinen Zimmer, wo sie als Kind gespielt, wo sie später ihren Eltern die Augen zugedrückt hatte, und wo die alte Uhr tickte ganz wie dazumal. Aber jetzt, nachdem sie ihren Willen bekommen und Marthe das schon hervorgezogene Festkleid wieder in den Schrank verschlossen hatte, tickte sie so leise, ganz leise und immer leiser, zuletzt unhörbar. - Marthe durfte sich ungestört der Erinnerung aller Weihnachtsabende ihres Lebens überlassen: Ihr Vater saß wieder in dem braungeschnitzten Lehnstuhl; er trug das feine Samtkäppchen und den schwarzen Sonntagsrock; auch blickten seine ernsten Augen heute so freundlich; denn es war Weihnachtsabend, Weihnachtsabend vor - ach, vor sehr , sehr vielen Jahren! Ein Weihnachtsbaum zwar brannte nicht auf dem Tisch - das war ja nur für reiche Leute - ; aber statt dessen zwei hohe dicke Lichter; und davon wurde das kleine Zimmer so hell, dass die Kinder ordentlich die Hand vor die Augen halten mussten, als sie aus der dunkeln Vordiele hineintreten durften. Dann gingen sie an den Tisch, aber nach der Weise des Hauses ohne Hast und laute Freudenäußerungen, und betrachteten, was ihnen das Christkind einbeschert hatte. Das waren nun freilich keine teuren Spielsachen, auch nicht einmal wohl feile; sondern lauter nützliche und notwendige dinge, ein kleid, ein Paar Schuhe, eine Rechentafel, ein Gesangbuch und dergleichen mehr; aber die Kinder waren gleichwohl glücklich mit ihrer Rechentafel und ihrem neuen Gesangbuch, und sie gingen eins um andere, dem Vater die Hand zu küssen, der währenddessen zufrieden lächelnd in seinem Lehnstuhl geblieben war. Die Mutter mit ihrem milden, freundlichen Gesicht unter dem eng anliegenden Scheiteltuch band ihnen die neue Schürze vor und malte ihnen Zahlen und Buchstaben zum Nachschreiben auf die neue Tafel. Doch sie hatte nicht gar lange Zeit, sie musste in die Küche und Apfelkuchen backen, denn das war für die Kinder eine Hauptbescherung am Weihnachtsabend; die mussten notwendig gebacken werden. Da schlug der Vater das neue Gesangbuch auf und stimmte mit seiner klaren Stimme an: "Frohlockt, lobsinget Gott"; die Kinder aber, die alle Melodien kannten, stimmten ein: "der Heiland ist gekommen"; und so sangen sie den Gesang zu Ende, indem sie alle um des Vaters Lehnstuhl herumstanden. Nur in den Pausen hörte man in der Küche das Hantieren der Mutter und das Prasseln der Apfelkuchen. -
  Tick, tack! ging es wieder; tick, tack! immer härter und eindringlicher. Marthe fuhr empor; da war es fast dunkel um sie her, draußen auf dem Schnee nur lag trüber Mondschein. Außer dem Pendelschlag der Uhr war es totenstill im Hause. Kein Kinder sangen in der kleinen Stube, kein Feuer prasselte in der Küche. Sie war ganz allein zurückgeblieben; die andern waren alle fort, alle fort. - Aber was wollte die alte Uhr denn wieder? - Ja, da warnte es auf elf - und ein anderer Weihnachtsabend tauchte in Marthens Erinnerung auf, ach! ein ganz anderer; viele, viele Jahre später. Der Vater und die Brüder waren tot, die Schwestern verheiratet, die Mutter, die nun mit Marthen allein geblieben war, hatte schon längst des Vaters Platz im braunen Lehnstuhl eingenommen und ihrer Tochter die kleinen Wirtschaftssorgen übertragen; denn sie kränkelte seit des Vaters Tod, ihr mildes Antlitz wurde immer blässer, und ihre freundlichen Augen blickten immer matter; endlich musste sie auch den Tag über im Bette bleiben.
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  Theodor Storm 1817 - 1888
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