Marthe und ihre Uhr ( 4 )
Das war schon über drei Wochen, und nun war es Weihnachtsabend.
Marthe saß an ihrem Bett und horchte auf den Atem der Schlummernden; es
war totenstill in der Kammer, nur die Uhr tickte. Da warnte es auf elf, die
Mutter schlug die Augen auf, und verlangte zu trinken. "Marthe",
sagte sie, "wenn es erst Frühling wird, und ich wieder zu
Kräften gekommen bin, dann wollen wir deine Schwester Hanne besuchen; ich
habe eben ihre Kinder im Traume gesehen; - du hast hier gar zu wenig
Vergnügen." - Die Mutter hatte ganz vergessen, dass Schwester Hannes
Kinder im Spätherbst gestorben waren; Marthe erinnerte sie auch nicht
daran, sie nickte schweigend mit dem Kopf und fasste ihre abgefallenen
Hände. Die Uhr schlug elf. -
Auch jetzt schlug sie elf, aber leise, wie aus weiter Ferne. - Da hörte
Marthe einen tiefen Atemzug; sie dachte, die Mutter wolle wieder schlafen. So
blieb sie sitzen, lautlos, regungslos, die Hand der Mutter noch immer in der
ihren; am Ende verfiel sie in einen schlummerähnlichen Zustand. Es mochte
so eine Stunde vergangen sein; da schlug die Uhr zwölf! - Das Licht war
ausgebrannt, der Mond schien hell ins Fenster; aus den Kissen sah das bleiche
Gesicht der Mutter. Marthe hielt eine kalte Hand in der ihrigen. Sie ließ
diese kalte Hand nicht los, sie saß die ganze Nacht bei der toten Mutter.
-
So saß sie jetzt bei ihren Erinnerungen in derselben Kammer, und die alte
Uhr tickte bald laut, bald leise; sie wusste von allem, sie hatte alles
miterlebt, sie erinnerte Marthe an alles, an ihre Leiden, an ihre kleinen
Freuden. -
Ob es noch so gesellig in Marthens einsamer Kammer ist? Ich weiß es
nicht; es sind viele Jahre her, seit ich in ihrem Hause wohnte, und jene kleine
Stadt liegt weit von meiner Heimat. - Was Menschen, die das Leben lieben, nicht
auszusprechen wagen, pflegte sie laut und ohne Scheu zu äußern: Ich
bin niemals krank gewesen, ich werde gewiss sehr alt werden. - Ist ihr Glaube
ein richtiger gewesen und sollten diese Blätter den Weg in ihre Kammer
finden, so möge sie sich beim Lesen auch meiner erinnern. Die alte Uhr
wird helfen, sie weiß ja von allem Bescheid.
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Theodor Storm 1817 - 1888
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