Wir sangen Weihnachtslieder,
hörten das Weihnachtsevangelium und wagten gar nicht, nach dem Baum oder
unseren Geschenken hinzuschauen. Das war uns nämlich von unserer alten
Wärterin fest eingeprägt, "ehe ihr euer Gedicht aufgesagt habt,
dürft ihr nichts sehen", und nun sollte ich mein Gedicht aufsagen.
Ich überreichte Vater mein Wunschpapier und fing an "Ihr Kinderlein,
kommet, o kommet", doch als ich so weit kam, da hatte ich meinen Blick
erhoben und nach dem Gabentisch hingeschaut. Was sah ich? In der Mitte des
Tisches saß mein Adelchen in einem neuen Kleide, mit wohlgefüllten
Körper und steif abstehenden armen. Über diesen Anblick vergaß
ich alles, ich stand mit weit geöffneten Augen da, und mein Herz stand vor
Seligkeit einen Augenblick still.
Ich verstummte und konnte mein Gedicht nicht weiter sagen. Mein Vater war ernst
und ein wenig streng. Pflichttreue und Selbstüberwindung mussten wir schon
als kleine Kinder zu üben versuchen. Er blickte missbilligend nach mir
hin, meine Mutter half mir, aber mein Gedächtnis ließ mich
vollständig im Stich, und ich brach in Tränen aus.
Trotzdem wurde der Abend noch schön. Tränenüberströmt
schloss ich mein Adelchen in meine Arme und beruhigte mich, als meine Eltern
sagten, sie wären mir nicht mehr böse.
Als ich abends in einem Bett lag mit Adelchen im Arm und mein Abendgebet
sprach, dankte ich zuerst dem lieben Gott für mein wiedergeschenktes Kind.
Dann kam eine hieße Bitte um Vergebung, dass ich meine Eltern so schwer
betrübt hätte, und dann ging alles unter in dem einen
Glückgefühl, dass die armen Kinder mein Adelchen nicht bekommen
hatten! Und den kalten Porzellankopf meiner Puppe fest an meine heißen
Kinderwangen gedrückt, schlief ich selig und dankbar ein.
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