Eine Weihnachtsgeschichte ( 2 )
Alle die bekannten Ecken und Eckchen, aus denen die
Erinnerung lächelt, die alten Bücher, aus denen dem Kindersinn der
Zauber der Dichtung empor blühte. Selbst der Garten wird aufgesucht, und
dann geht es den Gang zwischen bereiften Hecken hinunter zum See, der weit in
seiner glänzenden Eisdecke schimmernd daliegt, denn hier hat es gar nicht
geschneit, und es ist eine Schlittschuhbahn wie selten. Ich probiere einmal
vorläufig das Eis, und dann geht es wieder zurück zu den
Stübchen meiner Brüder. Dort sind Hermanns selbst erzogene
afrikanische Finken zu bewundern, ausländische Schildkröten und
Molche und andere naturhistorische Errungenschaften. Paul hat aus Holz
gesägte Sachen vorzuzeigen, und eine heimliche Zigarrenspitze, deren
vorzügliche Angerauchtheit, und eine unerlaubte Pfeife, deren echten
Weichholzgeruch ich bewundern muss.
Dann kommt nun der Weihnachtsabend selber, und mit ihm die gute Tante Amalie,
die mich schon so oft auf die Strümpfe gebracht hat, denn sie strickt mir
immer so schöne, warme, und ihr Dienstmädchen trägt einen
höchst verdächtigen Korb, und mit Tante Amalie kommt Cousine Helene,
meine kleine Feindin. Sie ist nun eigentlich kaum meine Cousine, denn die
Verwandtschaft ist so künstlich, dass Tate Amalie fünf Minuten
braucht, um sie auseinander zu setzen, und ich sie noch nie begriffen habe.
Aber wir nennen uns Cousine und Vetter und du, denn wir kennen uns schon von
der Zeit an, als Tante Amalie die kleine zehnjährige Weise zu sich nahm,
und das ist nun gerade acht Jahre her. "Kinder vertragt euch!" ist
das erste, was Tante Amalie zu uns sagt; sie weiß aus Erfahrung, dass es
dieser Warnung bedarf, denn wir stehen im allgemeinen auf dem Kriegsfuß.
"O, ich werde schon mit ihm fertig!" sagte Helene mit einem kleinen
Trotzblick, der wenig Gutes verspricht. Die Mutter und Tante Amalie
verschwinden zu heimlichen Vorbereitungen in den Festgemächern, und ich
petitioniere ebenfalls um Zulassung, da ich - mit einem Blick auf Helene - doch
nicht mehr zu den Kindern zu rechnen sei. "Nehmt den alten Meergreis nur
mit," meint sie, aber es wird mir nicht gestattet. "Schenkst du mir
denn auch etwas, Helenechen, mein Schwänchen?" fragte ich mit einem
alten Kinderreim. Sie ist immer schlagfertig: "Ich schenke dir kein
Tränchen, doch Tante Malchen schenkt dir was für deine langen
Benechen," sagt sie schnippisch. -"Ich weiß auch gar
nicht," lässt sich der biedere Paul vernehmen, "ihr hackt euch
doch immer, wo ihr euch seht."
"Du ahnungsvoller Engel, du," meint Helene und streichelt sein
würdiges Haupt. - "Hast du schon mal einen Engel gesehen," fragt
Hermann nun ironisch, "der karierte Hosen anhat und heimlich Zigarren
raucht?" - "Ihr seid schrecklich. Alle miteinander," sagt
Helene, "ist das eine Weihnachtsstimmung und sind das
Weihnachtsgespräche?" - "Das ist nur äußerlich,"
meine ich, "innerlich, da sind Lichter in unseren Herzen angezündet
und das Gemüt ist voll Weihnachtsduft."
"Um Gottes willen!" seufzt Helene.
Das Klavier steht geöffnet. "Lasst uns singen," bitte ich. -
Helene sieht mich fast dankbar an: "Aber was denn?" - "Unser
Weihnachtslied: "Morgen, Kinder, wird`s was geben, morgen werden wir uns
freun`." Und nun wird es gesungen, das alte harmlose Lied, das eigentlich
gar nicht mehr passt, da dies "Morgen" schon heute ist.
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Heinrich Seidel 1842 - 1906
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