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  Eine Weihnachtsgeschichte ( 3 )
  Dann singt Helene mit ihrer klaren Stimme: "O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit . . ." und dann: "Es ist ein Ross entsprungen . . ." und dann mit einmal tönt die Glocke, und der Moment, der so manches Mal mein Herz mit süßem Schauer erfüllt hat, ist da.
  Der Weihnachtsbaum, mit Silber - und Goldketten, Fähnchen, Netzen und Sternen und mancher verlockenden Frucht behangen, strahlt mir entgegen, ach, nimmer so herrlich wie einst, da sein Glanz durch das ganze Jahr einen wärmenden Schein breitete und schon lange vorher beim Ausblasen einer Wachskerze das Herz in süßem, ahnungsvollem Schauer erbebte: "Es riecht nach Weihnachten."
  Wir suchen nun jeder den Ort, wo ihm die Liebe etwas aufgebaut hat. Selbst Polly und Murr sind nicht vergessen. Jenem ist unter dem Tisch auf einem Schemelchen die delikate Knackwurst in einem Kranz von Pfeffernüssen zugedacht und ein eigenes Lichtlein dabei angezündet. Der würdige Kater dagegen findet seine Bescherung auf seinem Lieblingsplatz, dem Fensterbrett. Sie besteht in einem Schälchen Milch und einem Halsband mit seinem Familiennamen, von Helenes kunstfertiger Hand gestickt. "Es ist eigentlich unchristlich für so unvernünftige Tiere," sagt Tante Amalie, aber sie lächelt doch im stillen darüber. Das heimliche Packet, das Paul vorhin so schnell verbarg, gibt sich als ein aus Holz künstlich gesägter Gegenstand zu erkennen, der in Gestalt eines lustigen Schweizerhäuschens meiner Taschenuhr zum nächtlichen Wohnplatz dienen soll. Er hat überhaupt diesen Industriezweig auf alle Anwesenden ausgedehnt. Tante Amalie meint: "Du hast uns wohl alle besägt."
  Plötzlich wird die Tür aufgerissen und die zu einer unnatürlichen tiefe verstellte Stimme des Dienstmädchens lässt sich vernehmen: "Julklapp!" und ein in Papier gewickelter Gegenstand fällt ins Zimmer. "An Eduard" ist`s adressiert. Viel Papier fliegt hastig abgerissen zu Boden und Helene macht sich durch eine verhehlte Spannung verdächtig. Endlich kommt ein zierlich in Perlen gesticktes Hausschlüsselfutteral zum Vorschein. "Von dir, Helene?"
  "Nur aus Bosheit," ist die antwort, "weil ich weiß, dass du gestickte Sachen verabscheust."
  "Das musst du anerkennen," sagt Tante Amalie, "es ist eine sehr mühsame Arbeit, sie hat drei Wochen daran gearbeitet." - "Ach, nicht doch," meint abwehrend Helene. - "Ich will es dir zu Ehren alle Abende benutzen," sage ich. - Dagegen protestiert nun aber die Mutter: "Was, ihr wollt meinen Ältesten auf Abwegen bringen?!" - Wieder geht die Türe auf, wieder eine andere Nuance von Dorotheas wandelfähigem Organ: "Julklapp!" und eine große Kiste wird hereingeschoben mit der Adresse: "An Helene." Diese sieht mich voller Verdacht von der Seite an. "Darin ist gewiss eine große Schändlichkeit von dir," meint sie, "ich mache es gar nicht auf," aber sie hat schon den Deckel der Kiste abgeschoben. Ein mächtiges Packet, in Papier gesiegelt, kommt zum Vorschein. Aus dem Papier entwickelt sich eine zweite Kiste. Helenchen wird ganz aufgeregt, denn in dieser Kiste steckt wieder eine und so fort, die Papiere fliegen umher und das ganze Zimmer steht voller Kisten.
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  Heinrich Seidel 1842 - 1906
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