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  Eine Weihnachtsgeschichte ( 8 )
  Während wir eine Weile ruhten, fiel mir plötzlich eine Bemerkung ein, die ich vorhin gemacht hatte. Es war mir eingefallen, dass die Entenkolonie, der große Stein und Nusswerder in einer geraden Linie lagen, danach konnte man die Richtung bestimmen. Gelang es uns, diese gerade Linie einzuhalten, so mussten wir unbedingt auf Nusswerder treffen, von wo aus die Bahn mit Leichtigkeit zu erreichen war.
  Wieder glitten wir in den Schnee hinaus, Helene immer etwa zwanzig Schritt hinter mir. Als wir eine Weile gelaufen waren, glaubte ich vor mir in dem Schneegewimmel etwas Dunkles ragen zu sehen wie die Umrisse von Bäumen. Unwillkürlich vermehrte ich meine Schnelligkeit, da plötzlich ertönte hinter mir ein gellender Schrei, und als ich mit scharfem Ruck meinen Lauf anhielt, ward ein Knistern und Senken zu meinen Füßen bemerkbar, das mir kaum Zeit ließ, in schneller Wendung zurückzutaumeln. Wie erstarrt stand Helene hinter mir. Ich sah sie wanken und eilte, sie in meinen Armen aufzufangen. Dann blickte ich unwillkürlich zurück und sah jenen kleinen dunklen Wasserfleck, der in der fast zugefrorenen Öffnung noch frei geblieben war und Helene zu dem Warnungsruf veranlasst hatte. Sie lag an meiner Brust und schluchzte leise. "Helene," tröstete ich, "es ist ja alles gut." Sie schlang plötzlich den Arm um mich und rief leidenschaftlich: "Ich will dich nie wieder necken, Eduard, niemals wieder!"
  Ich fühlte die schöne Gestalt in meinen Armen, ihr Busen wogte an meinem, und ich beugte mich zu ihr nieder und fragte leise: "Auch dann nicht, Helene, wenn wir immer bei einander sein werden, immer?" Sie hob fast verwundert den Kopf und schaute mir fragend in die Augen. Dort mochte sie wohl die richtige Deutung lesen, denn langsam stieg ein Rot in ihrem reinen Antlitz auf und sie verbarg es wieder an meiner Brust. Es war eine kleine Pause, indes ich sie sanft an mich drückte. "Auch dann nicht," flüsterte sie leise.
  Wir hatten beide vergessen, dass wir verirrt in der großen Einsamkeit des Schneegestöbers standen; was kümmerte uns, dass wir den Weg verloren hatten, hatten wir doch den schöneren zu unseren Herzen und zu unseren Lippen gefunden!
  "Eduard - Helene - Eduard!" rief es plötzlich aus der Ferne, und fast erschreckt fuhren wir auseinander. Und wieder rief es, ich erkannte die Stimme meines Bruders. Ich gab Antwort und ein vielstimmiges Jubelgeschrei war die Folge. Dann nach einer Weile sah ich die dunkle Gestalt Hermanns aus dem Schnee hervortauchen und weiterhin kam dann eine zweite Gestalt und eine dritte und so fort, alle, wie ich beim Näherkommen bemerkte, an ein langes Seil aufgereiht, an das sie sich in Zwischenräumen verteilt hatten, während der letzte Flügelmann die Bahn innehielt. Sie hatten uns von dem hochgelegenen Wirtshaus, das sie besucht hatten, zufällig mit dem Fernrohr beobachtet und wussten, dass wir vom Schnee überrascht, auf dem Eise sein mussten. So hatten sie dann die lange Wäscheleine des Wirtes requiriert, um uns mit Sicherheit aufsuchen zu können.
  Als wir zu Hause bei der Mutter, die uns schon mit Sorgen erwartet hatte, anlangten, rief Hermann, der unterwegs eingeweiht war, durch die Türe übermütig hinein: "Julklapp!" und Helene und ich traten Hand in Hand ins Zimmer. Ein Blick der Mutteraugen genügte, und ihre Arme umschlossen uns beide. "Mein Lieblingswunsch," sagte sie glücklich, "und ihr bösen Kinder habt euch so angestellt? Und was wird Tante Amalie sagen?"
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  Heinrich Seidel 1842 - 1906
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