Eine Weihnachtsgeschichte ( 4 )
"Es ist abscheulich," sagt Helene,
"gerade wie in dem Märchen von der alten Frau, die ein Haus hatte und
in dem Hause eine Kammer und der Kammer einen Schrank und in dem Schrank eine
Kiste und in der Kiste wieder eine Kiste und so fort und in der letzten eine
Schachtel und so weiter, und in der letzten kleinsten Schachtel war ein
Papierchen wieder ein Papierchen, und in dem allerletzten Papierchen ein
Pfennig, der war ihr einziges Vermögen." Endlich kommt ein runder in
Seidenpapier gewickelter Gegenstand zum Vorschein. "Nun geht`s los!"
rufen alle. Es ist aber nur eine runde, große Apothekerschachtel. Das
Seidenpapier fliegt, eine Schachtel nach der andern kommt hervor, die Spannung
wird fast unerträglich. Endlich in der zehnten Schachtel ein kleiner
schwerer, in Papier gewickelter Gegenstand. "Das ist der Pfennig!"
ruft Helene, "die gute, alte Frau schenkt mir ihr ganzes Vermögen zu
Weihnachten!" Es ist aber kein Pfennig, sondern ein kleines, zierliches,
goldenes Kreuz an einer feinen Kette. "Gerade wie ich es mir
gewünscht habe!" ruft Helene verwundert, und ein fragender Blick
trifft mich. Ich nicke und mit einem Male hat sie meine Hand mit ihren beiden
erfasst und schaut mir herzhaft in die Augen. "Ich danke dir,
Eduard." - "So freundlich hast du mich lange nicht angesehen,
Helene." - "Wenn du immer ein artiges Kind bist, antwortete sie,
"so wirst du noch öfter freundlich angesehen."
"Julklapp!" tönt es wieder in Dorotheas höchsten
Fisteltönen; sie sucht uns offenbar einzubilden, dass sich ein ganzes Heer
von verschiedenen Geschenkspender draußen ablöst. Da man jedes Mal
vor dem Julklappruf die Haustürklingel hört, so habe ich sie sogar im
Verdacht, dass sie zur größeren Wahrscheinlichkeit ihrer
oratorischen Darstellung jedes Mal die Treppe hinabläuft, zuvor einen
Eintretenden zu fingieren. - Die Julklappen nehmen endlich ein Ende und
Dorothea tritt nun selbst ein, ganz rot im Gesicht von der Anstrengung, aber
harmlos, als wisse sie von nichts, um auch ihr bescheidenes Weihnachtskistchen
aufzusuchen.
Allmählich brennen die Wachskerzen nieder und eine nach der andern
erlischt knisternd in dem Nadelwerk des Baumes. Nach der festlichen Aufregung
ist eine beschauliche Stille eingetreten. Die beiden Jungen haben sich
über die bescherten Bücher hergemacht und blättern vorkostend
darin umher. Im Nebenzimmer hört man die Stimmen der Mutter und der Tante
Amalie, die im Hinblick auf das morgige Festgericht in einen interessanten
Meinungsaustausch über die Anwendung von saurer Sahne verwickelt sind.
Polly und Murr liegen wohlbehaglich an ihren Lieblingsplätzen, im
innersten Gemüt befriedigt, ihre Weihnachtsbescherung verdauend, und ich
habe mich in meine dunkle Weihnachtslieblingsecke auf den Lehnstuhl hinter dem
Tannenbaum zurückgezogen. Dort schweifen meine Blicke bald in das
grüne, nur noch stellenweise beleuchtete Geäst des Weihnachtsbaumes
nach den niederbrennenden Lichtern, bald nach Helene, die, noch immer vor ihrem
Weihnachtstische stehend, nach Mädchenweise stets von neuem die Geschenke
und Geschenkchen zierlich ordnet und eingehend betrachtet. Sie steht abgewendet
von mir und nur zuweilen bei einer Bewegung zeigt sich das zierliche Profil
ihres Gesichtes. Die kleinen widerspenstigen Löckchen, die sich nicht dem
allgemeinen Gesetz der Haartracht fügen wollen, umgeben wie ein goldener
Schimmer das Köpfchen.
Da knistert wieder eines der Lichter am Baume in die Nadeln, ein kurzes
Aufleuchten, und es ist erloschen, das ganze Zimmer ist schon von dem
Weihnachtsduft der Nadeln und Lichter erfüllt. Meine Blicke wenden sich
wieder zu Helene. Sie blättert gerade in einem kleinen Büchlein, das
ich ihr für ihre Mädchenminiaturbibliothek geschenkt habe.
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Heinrich Seidel 1842 - 1906
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