Durch Nebel zur Klarheit ( 1 )
"Die Nachtigall mit süßem Schall
Singt alles gleich vom Blatt", -
so tönte eine helle Knabenstimme aus der Scheunentür, und wahrlich,
sie klang wie ein Glöcklein in dem hohen Raum.
"Mach' doch, dass der Franz nicht immer singt, ich hör's nicht
gern", brummte drin in der Stube der alte Vater, der bleich und matt auf
dem Ofentritt saß und bedenklich an seinen dick umwickelten Beinen, in
denen der Rheumatismus ihn plagte, nieder blickte. Vergebens hatte er sich an
den warmen Ort geflüchtet, in der Hoffnung, hier die Schmerzen zu lindern;
sie blieben so heftig wie zuvor. Es war draußen auch schon so feuchtkalt,
und der graue Nebel hing schwer vor den Fenstern. Der Vater war sonst
gleichmäßiger in der Stimmung gewesen, aber seit der Rheumatismus
ihn zwang, in der Stube zu sitzen, während draußen noch die
Herbstarbeit zu tun war - seitdem sah es in seinem Innern aus wie ein
hässlicher, grauer Nebeltag. Dass er gerade jetzt krank werden sollte, und
dass die Buben nun ganz allein schalten mussten, das wurmte im Herzen des alten
Mannes, der sein Leben lang gesund und tätig gewesen war. Zwar kannte er
den lieben Gott und hatte in seinem Hause fleißig in Gottes Wort gelesen,
er galt auch weit im Lande für einen frommen Mann; aber der Nebel war
gekommen und hatte ihm das Licht verdunkelt, dass er nicht mehr durchsah. Er
verstand den lieben Gott durchaus nicht und dachte, er wolle jetzt nur ein
wenig das Gesicht von ihm wegnehmen, vielleicht tue es ihm dann leid, dass er
ihn so plage, und dann nehme er das Übel weg, und alles sei wieder gut. Es
ist nicht immer leicht, in den bösen Tagen dem lieben Gott frei und offen
ins Auge zu schauen.
Die Mutte hatte viel zu tragen; es tat ihr weh, dass niemand seine Sache recht
machen konnte, und dass vor allem der Franz manch scharfes Wort zu hören
bekam. Darum ging sie heute still hinaus und sagte: "Franz, sing' nicht so
laut, der Vater mag's nicht gern!"
"Ja, du hast ja erst vorhin gesagt: "Rechne nicht immer, das ist
nicht gut"; was soll ich denn tun?" Die Mutter lachte. "Ist's
nicht genug am Rüben schnätzeln , muss der Mund durchaus etwas
mittun? Nun, dann versuch's, still zu singen, weißt du - einwärts,
nicht auswärts!"
Der Franz hackte mit seinem Messer auf und ab, so dass die gelben Scheiben der
großen Rüben nur so umherflogen. Und jetzt kam es ihm wieder in den
Sinn: "Ein Gesangbuch kostet eine Mark; wenn ich mein Kaninchen verkaufen
könnte um eine Mark zwanzig Pfennige, so blieben mir noch zwanzig Pfennige
übrig. Wenn ich nur wüsste, wo ich es verkaufen könnte!"
Franz hackte fürchterlich drauf los, und der Ausdruck seines Gesichts
wurde ein wenig verzweifelter, je mehr er daran dachte, wie notwendig er ein
Gesangbuch haben sollte für die Schule, die im Winter wieder
regelmäßig gehalten wurde. Aber der Vater wollte ihm das Geld dazu
nicht geben. Das Gesangbuch fraß ihm am Herzen wie ein nagender Wurm.
Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, fröhliche Hoffnung strahlte aus
seinen blauen, gutherzigen Augen, und mit erneuter Behändigkeit hackte er
seine Rüben entzwei.
Die Zeit des Nachtessens kam. Der Vater saß so stramm als möglich
mit bei Tisch und löffelte mit aus der großen Schüssel
dampfenden Milchbreies. Heiner und Jörg klapperten tapfer mit. Da
tönte plötzlich Franzens Stimme über die Löffelmusik:
"Mutter, nicht wahr, es ist bald Martini?"
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Dora Schlatter 1855 - 1915
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