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  Durch Nebel zur Klarheit ( 4 )
  Dem alten Vater schimmerte es vor dem Blick. Der Nebel zerriss, und plötzlich strömte es wie eitel Klarheit in sein Herz. "Also geliebet!" zuckte es durch seine Seele. Er ließ sein Taschentuch fallen, und als Franz hinlief und es aufhob, strich der Vater über seinen Krauskopf und sagte: "Das hast du gut gemacht!"
  Als sich Franz umdrehte, sah er plötzlich die großen Brüder hinter dem Tisch sitzen; sie starrten mit großen, glänzenden Augen in die Lichter, und unter dem Bäumlein - da lag etwas, - Franz kannte es gleich - da lag ein schönes, neues Gesangbuch. "Mutter, jetzt kommt's, jetzt an Christkinds Geburtstag!" Wie der Blitz hatte er das Buch erfasst und drückte es laut jubelnd an sein Herz. "Dank, Mutter, Dank!" rief er und wollte sie umarmen. sie aber wehrte und sagte: "Ich weiß nichts davon. Ich glaube, das Christkind hat's selbst gebracht. Oder weiß der Jörg etwas davon?" Dieser aber knurrte etwas Unverständliches.
  Freilich wusste der Jörg davon. Franz hatte wohl sein Bäumlein in der dunkelsten Ecke des Heubodens versteckt; aber so gut gelang's doch nicht, dass nicht der findige Bruder es entdeckt und Zweck und Ziel gewittert hätte. `s ist aber auch kein Bruderherz so hart, wie's manchmal scheint. Gestern hatte er beim Buchbinder in Bleikendorf ein neues, schönes Gesangbuch gekauft, um die alte Sehnsucht zu stillen.
  Franzens Freude war auch eine reiche Belohnung für die Liebestat, und gleich wurde es aufgeschlagen und weiter gesungen - Lied um Lied dem Christkind zu Ehren, dass sie heute zu fröhlichen Kindern eines hellen, seligen Gottesreichs gemacht hatte.
 
  Dem Christabend folgt die Silvesternacht. Wieder ist's Abend, und der Vater sitzt auf der Ofenbank; aber sein Auge blickt so freundlich, und sein Mund spricht so milde Worte wie seit Wochen nie. Der Riss im Nebel ist geblieben, und der Strahl von der Gottesklarheit hat ihm geholfen, die Schmerzen zu tragen und geduldig zu bleiben. Er hat noch mehr gewirkt als das.
  Eine Frauengestalt sitzt neben ihm; man könnte sie für die Mutter halten, so ähnlich ist sie; aber sie ist zwanzig Jahre jünger. Heute ist sie gekommen und hat lange mit dem Vater gesprochen und viel dazu geweint. Jetzt lächelt sie freundlich. Sie haben Franz gesagt, das sei seine Mutter. Er begreift nicht, wie das so plötzlich sein soll, und beguckt sie von der Seite. Eins aber gefällt ihm an ihr. Sie hat dem Vater eine wollene Decke ums Knie gelegt, und nun sieht er so behaglich und umsorgt aus und sagt, es tut ihm wohl.
  Als es in der Stube ganz still ist, sagt der Vater: "Franz, sing' eines von den Liedern der letzten Tage. Ich muss dich nun noch oft hören, damit es mir nicht fremd ist, wenn ich bald die Engel droben singen hör'. Bald ist's soweit!"
  Der Mutter wollten die Tränen kommen. Franz aber hebt zu singen an, dass es tönt wie ein feines, reines Glöcklein, das das Schwinden des Jahres begleitet:
  "Zuletzt müsst ihr doch haben recht,
  Ihr seid nun worden Gott's Geschlecht;
  Des danket Gott in Ewigkeit,
  Geduldig, fröhlich, allezeit!"
 
  Dann war's stille im kleinen Kreise, stille über den gefalteten Händen des Alten; aber es war die Stille eines friedlichen Herzens, das versöhnt ruhte in dem Willen Gottes. -
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  Dora Schlatter 1855 - 1915
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