Die Geschichte vom Tannenbäumchen ( 1 )
"Tante Luise", sagte am andern Abend Mathildchen, "was
erzählst Du uns denn heute für eine Geschichte? Weißt Du denn
noch etwas?"
"Ja freilich weiß ich noch etwas, hört mir nur zu!"
"Ach, Tante", sagte das Mathildchen wieder, "es dauert doch gar
zu lange bis das Christkind kommt, ich kann es kaum noch aushalten und werde
ganz ungeduldig." "Ungeduldig? das musst Du Dir vergehen lassen.
Höre nur wie geduldig das Tannenbäumchen war und wie es stille
wartete, bis sein Zeit kam, denn die Geschichte, die ich heute erzähle,
kommt in unserm Garten vor!"
Die Kinder stützten ihre kleinen Ellenbogen auf der Tante Knie und sie
begann:
"Es war einmal ein schöner großer Garten, in dem standen eine
Menge Bäume, welche alle die herrlichsten Früchte trugen. Auf dem
einen wuchsen Kirschen, auf dem andern Birnen, auf dem dritten Äpfel und
so fort, aber bei allen gab es etwas zu naschen vom Frühjahr bis zum
Herbst und die Kinder, die in dem Garten wohnten, hatten die Bäume sehr
lieb.
Nun war es wieder einmal Frühling und der Garten stand da in seinem
schönsten Schmucke. Die Kirschbäume waren anzusehen, als wären
sie mit Zucker bestreut, die Pfirsiche hatten rosenrote Blüten wie der
Abendhimmel und die Apfelbäume waren mit weißen Röslein ganz
überschüttet.
Da war kein Strauch und kein Bäumchen auch noch so klein, welches nicht
eine Blütenflocke oder ein lichtes, saftgrünes Blättchen
aufzuweisen hatte und wenn dann die liebe Sonne so drüber hin schien, war
der Garten gar zu lieblich anzusehen. Aber mitten drinnen in all der Pracht
stand ein kleiner Baum, für den schien kein Frühling gekommen zu
sein, denn starr und dunkelgrün streckten seine Nadeln sich hinaus und
auch nicht die kleinste weiße oder rote Blüte war daran aufzufinden.
Das Bäumlein aber war trotz seiner Armut ganz zufrieden, beklagte sich
nicht, und kam manchmal im Vorüberfliegen ein Vöglein seinem Wipfel
nahe und ruhte sich darauf aus, so freute es sich wie die andern Bäume an
dessen Gezwitscher und dachte nicht daran, wie unscheinbar es neben ihnen
aussah.
Aber das ärgerte die schöngeputzten Bäume und ein
hochmütiger Kirschbaum fing auf einmal an und sprach: "Es ist ein
rechte Glück, wenn man hübsch aussieht und auch zu etwas gut ist in
der Welt! Was habe ich jetzt für feine, weiße Blüten und wenn
diese abgefallen sind, dann kommen die frischen, grünen Blätter und
zuletzt die prächtigen, roten Kirschen, an denen die kleinen und
großen Leute ihr Vergnügen haben. Ach, wie froh bin ich, dass ich
nicht so ein einfältiger Tannenbaum geworden bin, wie derjenige hier neben
mir, der doch zu nichts auf der Welt gut ist, als um uns den Platz zu
versperren!"
"Du hast Recht", rief ein stattlicher Birnbaum, "Dein Nachbar
ist mehr als überflüssig im Vergleich zu uns. Von meinen saftigen
Birnen will ich noch gar nicht reden, aber welchen prächtigen Schatten
gebe ich in der Hitze den lieben Kindern, die sich auf der Bank unter meinem
Blätterdache ausruhen.
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Luise Büchner 1821 - 1877
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