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  Der Tannenbaum ( 2 )
  Und der Wind küsste den Baum, und der Tau weinte Tränen über denselben, aber das verstand der Tannenbaum nicht.
  Wenn es gegen die Weihnachtszeit war, wurden ganz junge Bäume gefällt, Bäume, die nicht einmal so groß oder gleichen Alters mit diesem Tannenbaume waren, der weder Rast noch Ruhe hatte, sondern immer davon wollte; diese jungen Bäume, und es waren gerade die allerschönsten, behielten immer alle ihre Zweige, sie wurden auf Wagen gelegt und Pferde zogen sie von dannen zum Walde hinaus.
  "Wohin sollen diese?" fragte der Tannenbaum. "Sie sind nicht größer als ich, Einer ist sogar viel kleiner; weswegen behalten sie alle ihre Zweige? Wohin fahren sie?"
  "Das wissen wir! Das wissen Wir!" zwitscherten die Sperlinge. "Unten in der Stadt haben wir in die Fenster gesehen! Wir wissen, wohin sie fahren! O, sie gelangen zur größten Pracht und Herrlichkeit, die man sich denken kann! Wir haben in die Fenster gesehen und erblickt, dass sie mitten in der warmen Stube aufgepflanzt und mit den schönsten Sachen, vergoldeten Äpfeln, Honigkuchen, Spielzeug und viele hundert Lichtern geschmückt werden."
  "Und dann?" fragte der Tannenbaum und bebte in allen Zweigen. "Und dann? Was geschieht dann?"
  "Ja, mehr haben wir nicht gesehen! Das war unvergleichlich schön!"
  "Ob ich wohl bestimmt bin, diesen strahlenden Weg zu betreten?" jubelte der Tannenbaum. "Das ist noch besser, als über das Meer zu ziehen! Wie leide ich an Sehnsucht! Wäre es doch Weihnachten! Nun bin ich hoch und entfaltet wie die andern, die im vorigen Jahre davon geführt wurden! O, wäre ich erst auf dem Wagen, wäre ich doch in der warmen Stube mit all der Pracht und Herrlichkeit! Und dann? Ja, dann kommt noch etwas Besseres, noch Schöneres, warum würden sie mich sonst so schmücken? Es muss noch etwas Größeres, Herrlicheres kommen! Aber was? O, ich leide, ich sehne mich, ich weiß selbst nicht, wie es mir ist!"
  "Freue dich unser!" sagten die Luft und das Sonnenlicht; "freue dich deiner frischen Jugend im Freien!"
  Aber er freute sich durchaus nicht; er wuchs und wuchs, Winter und Sommer stand er grün; dunkelgrün stand er da, die Leute, die ihn sahen, sagten: "Das ist ein schöner Baum!" und zur Weihnachtszeit wurde er von allen zuerst gefällt. Die Axt hieb tief durch das Mark; der Baum viel mit einem Seufzer zu Boden, er fühlte einen Schmerz, eine Ohnmacht, er konnte gar nicht an irgend ein Glück denken, er war betrübt, von der Heimat scheiden zu müssen, von dem Flecke, auf dem er emporgeschossen war; er wusste ja, dass er die lieben alten Kameraden, die kleinen Büsche und die Blumen ringsumher nie mehr sehen werde, ja vielleicht nicht einmal die Vögel. Die Abreise hatte durchaus nichts Behagliches.
  Der Baum kam erst wieder zu sich selbst, als er im Hofe, mit andern Bäumen abgeladen, einen Mann sagen hörte: "Dieser hier ist prächtig! Wir brauchen nur diesen!"
  Nun kamen zwei Diener im vollen Staat und trugen den Tannenbaum in einen großen schönen Saal. Ringsumher an den Wänden hingen Bilder, und bei dem großen Kachelofen standen große chinesische Vasen mit Löwen auf den Deckeln; da waren Wiegestühle, seidene Sofas, große Tische voll von Bilderbüchern und Spielzeug für hundertmal hundert Taler; wenigstens sagten das die Kinder.
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  Hans Christian Andersen 1805 - 1875
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