Der Tannenbaum ( 4 )
Das war ein Rufen und Schreien! Nur der Tannenbaum schwieg
ganz still und dachte: "Komme ich gar nicht mit, werde ich nichts dabei zu
tun haben?" Er war ja mit gewesen, hatte ja geleistet, was er sollte.
Der Mann erzählte von Klumpe - Dumpe, welcher die Treppen hinunterfiel und
doch erhöht wurde und die Prinzessin erhielt. Und die Kinder klatschten in
die Hände und riefen: "Erzähle, erzähle!" Sie wollten
auch die Geschichte von Ivede - Avede hören, aber sie bekamen nur die von
Klumpe - Dumpe. Der Tannenbaum stand ganz stumm und gedankenvoll, nie hatten
die Vögel im Walde dergleichen erzählt. "Klumpe - Dumpe fiel die
Treppen hinunter und bekam doch die Prinzessin! Ja, ja, so geht es in der Welt
zu!" dachte der Tannenbaum und glaubte, dass es wahr sei, weil es ein so
netter Mann war, der es erzählte. "Ja, ja! Vielleicht falle ich auch
die Treppe hinunter und bekomme eine Prinzessin!" Und er freute sich, den
nächsten Tag wieder mit Lichtern und Spielzeug, Gold und Früchten
aufgeputzt zu werden.
"Morgen werde ich nicht zittern!" dachte er. "Ich will mich
recht aller meiner Herrlichkeit freuen. Morgen werde ich wieder die Geschichte
von Klumpe - Dumpe und vielleicht auch die von Ivede - Avede hören."
Und der Baum stand die ganze Nacht still und gedankenvoll.
Am Morgen kamen die Diener und das Mädchen herein. "Nun beginnt der
Staat aufs neue!" dachte der Baum; aber sie schleppten ihn zum Zimmer
hinaus, die Treppe hinauf, auf den Boden, und stellten ihn in einen dunklen
Winkel, wohin kein Tageslicht schien. "Was soll das bedeuten?" dachte
der Baum. "Was soll ich hier wohl machen? Was mag ich hier wohl hören
sollen?" Er lehnte sich gegen die Mauer und dachte und dachte. Und er
hatte Zeit genug, denn es vergingen Tage und Nächte; Niemand kam herauf,
und als endlich Jemand kam, so geschah es, um einige große Kästen in
den Winkel zu stellen; der Baum stand ganz versteckt, man musste glauben, dass
er ganz vergessen war.
"Nun ist es Winter draußen!" dachte der Baum. "Die Erde
ist hart und mit Schnee bedeckt, die Menschen können mich nicht pflanzen;
deshalb soll ich wohl bis zum Frühjahr hier im Schutz stehen! Wie wohl
bedacht ist das! Wie die Menschen doch so gut sind! Wäre es hier nur nicht
so dunkel und schrecklich einsam! Nicht einmal ein kleiner Hase! Das war doch
niedlich da draußen im Wald, wenn der Schnee lag und der Hase vorbei
sprang, ja selbst als er über mich hinwegsprang; aber damals mochte ich es
nicht leiden. Hier oben ist es doch schrecklich einsam!"
"Pip, pip!" sagte da eine kleine Maus und huschte vorbei; und dann
kam noch eine kleine. Sie beschnüffelten den Tannenbaum und dann
schlüpften sie zwischen dessen Zweige.
"Es ist eine gräuliche Kälte!" sagten die kleinen
Mäuse. "Sonst ist hier gut sein; nicht wahr, du alter
Tannenbaum?"
"Ich bin gar nicht alt!" sagte der Tannenbaum; "es gibt viele,
die weit älter sind als ich!"
"Woher kommst du", fragten die Mäuse, "und was weißt
du?" Sie waren gewaltig neugierig. " Erzähle uns doch von den
schönsten Orten auf Erden! Bist du dort gewesen? Bist du in der
Speisekammer gewesen, wo man auf Talglicht tanzt, mager hineingeht und fett
herauskommt?"
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Hans Christian Andersen 1805 - 1875
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