Der Tannenbaum ( 3 )
Der Tannenbaum
wurde in ein großes, mit Sand gefülltes Fass gestellt, aber Niemand
konnte sehen, dass es ein Fass war, denn es wurde rundherum mit grünem
Zeug behängt und stand auf einem großen bunten Teppich. O wie der
Baum bebte! Was wird da doch vorgehen? Sowohl die Diener als die Fräulein
schmückten ihn. An einem Zweig hängten sie kleine Netze, aus farbigem
Papier ausgeschnitten, jedes Netz war mit Zuckerwerk gefüllt; vergoldete
Äpfel und Wallnüsse hingen herab, als wären sie fest gewachsen
und über hundert rote, blaue und weiße kleine Lichter wurden in den
Zweigen festgesteckt. Puppen, die leibhaft wie die Menschen aussahen - der Baum
hatte früher nie solche gesehen - schwebten im Grünen, und hoch oben
in der Spitze wurde ein Stern von Flittergold befestigt. Das war prächtig,
ganz außerordentlich prächtig! "Heute Abend", sagten Alle,
"heute Abend wird es strahlen!" "O", dachte der Baum
"wäre es doch Abend! Würden nur die Lichter bald
angezündet! Und was dann wohl geschieht? Ob da wohl Bäume aus dem
Walde kommen, mich zu sehen? Ob die Sperlinge gegen die Fensterscheiben
fliegen? Ob ich hier festwachse und Winter und Sommer geschmückt stehen
werde?
Ja, er wusste gut Bescheid; aber er hatte ordentlich Borkenschmerzen vor lauter
Sehnsucht, und Borkenschmerzen sind für einen Baum eben so schlimm wie
Kopfschmerzen für uns Andere.
Nun wurden die Lichter angezündet. Welcher Glanz, welche Pracht! Der Baum
bebte in allen Zweigen dabei, so dass eins der Lichter das Grüne
anbrannte; es sengte ordentlich.
"Gott bewahre uns!" schrieen die Fräulein und löschten es
hastig aus.
Nun durfte der Baum nicht einmal beben. O, das war ein Grauen! Ihm war bange,
etwas von seinem Staate zu verlieren; er war ganz betäubt von all dem
Glanze. Da gingen beide Flügeltüren auf, und eine Menge Kinder
stürzten herein, als wollten sie den ganzen Baum umwerfen, die
älteren Leute kamen bedächtig nach; die Kinder standen ganz stumm,
aber nur einen Augeblick, dann jubelten sie wieder, dass es laut schallte, sie
tanzten um den Baum herum, und ein Geschenk nach dem andern wurde
abgepflückt. "Was machen sie?" dachte der Baum. "Was soll
geschehen?" Die Lichter brannten gerade bis auf die Zweige herunter, und
je nachdem sie niederbrannten, wurden sie ausgelöscht, und dann erhielten
die Kinder die Erlaubnis, den Baum zu plündern. O, sie stürzten auf
denselben ein, dass es in allen Zweigen knackte; wäre er nicht mit der
Spitze und mit dem Goldsterne an der Decke festgemacht gewesen, so wäre er
umgestürzt.
Die Kinder tanzten mit ihrem prächtigen Spielzeug herum, Niemand sah nach
dem Baume, ausgenommen das alte Kindermädchen, welches kam und zwischen
die Zweige blickte; aber es geschah nur, um zu sehen, ob nicht noch eine Feige
oder ein Apfel vergessen sei. "Eine Geschichte, eine Geschichte!"
riefen die Kinder und zogen einen kleinen dicken Mann gegen den Baum hin, und
er setzte sich gerade unter denselben, "denn so sind wir im
Grünen", sagte er, "und der Baum kann besonders Nutzen davon
haben, zuzuhören! Aber ich erzähle nur eine Geschichte. Wollt ihr die
von Ivede - Avede oder die von Klumpe - Dumpe hören, der die Treppen
hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin erhielt?"
"Ivede - Avede!" schrieen Einige, "Klumpe - Dumpe!"
schrieen Andere.
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Hans Christian Andersen 1805 - 1875
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