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  Chamäleon ( 3 )
  "Da nimm und trink!" forderte ihn das kleine Männchen auf und reichte ihm das Fläschchen. Während es dem jungen Mann schien, daß ihn eine unsichtbare Gewalt zurückhalten wollte, griff er mit fieberhaften Begierde nach dem Fläschchen, das er rasch an die trockenen heißen Lippen setzte.
  Er trank mit der Hast des Wahnsinns in einem Zug daraus.
  Frohlockend sah ihm das kleine Männchen zu, und wie ein chinesisches Farbenfeuerwerk sprühte es dabei aus seinen Augen, und dem Smaragdknopf seines Degengriffes.
  Der junge Mann aber fühlte ein eigentümliches Kribbeln durch seine Adern kriechen, dabei aber war ihm jeder Pulsschlag ein Nadelstich. Ein leises Unbehagen nagte ihm am Herzen, indes es in seinem Gehirn brodelte, als vollzöge sich da irgend ein chemischer Prozeß. Nach und nach zog sich die Lebenswärme aus seinem Innern, in dem sie fiebernd gebrannt hatte, nach Außen, und es schien dem jungen Mann, als wäre dagegen die organische Tätigkeit seiner Haut um das hundertfache erhöht. Sie war ganz von einem warmen Schweiß bedeckt, in dem sich zitternd abspiegelte, was sich in der Stube befand. Das kleine Männchen war indessen sehr geschäftig gewesen. Es war von einer Ecke der Stube in die andere gerannt, und hatte sich an die Wände gestemmt, und daran so lange gedrückt und geschoben, bis der junge Mann und das kleine Männchen sich nicht mehr in der kleinen Stube, sondern in einem riesigen Saal befanden, von dessen einem Ende bis zum anderen man die Gegenstände nicht mehr mit freiem Auge zu unterscheiden vermochte.
  Plötzlich sah man an einem Ende des Saals eine Schar schwarzer Männer.
  Stolz und vornehm blickten sie nach dem jungen Mann, der den Drang fühlte, sich ihnen zu nähern. Doch schon bei seinen ersten Schritten wandten sie sich verächtlich von ihm ab. Um so rascher schritt nun der junge Mann auf sie zu. Je näher er ihnen kam, desto schwärzer wurden er selber, bis er endlich ihnen gegenüber stand, und so schwarz war wie sie.
  Jubelnd ward er nun von den schwarzen Männern begrüßt, und sie drückten ihn an die Brust, und überhäuften ihn mit Liebkosungen und Geschenken.
  Und als sich der junge Mann nach einer anderen Seite des Saals wandte, da sah er wieder ein Schar weißer Männer.
  Nun drängte es ihn wieder zu diesen hin. Und es ging ihm bei ihnen, wie vorher bei den schwarzen Männern. Sie wandten sich im Anfang von ihm ab, nahmen ihn aber, als er selbst so weiß war wie sie, entzückt in ihre Mitte, und priesen ihn, und setzten ihn auf den besten Platz, und bedachten ihn mit Ehren und Schätzen.
  Und gerade so geschah ihm an anderen Stellen des feenhaften Saals, mit roten, blauen, gelben, grünen und braunen Männern, die ihn alle mit gleichem Enthusiasmus als einen der Ihrigen erkannte, sobald er selber ihre Farbe annahm.
  Auf diese Weise hatte der junge Mann erreicht, was ein Mensch zu erreichen vermag. Er dachte nun an seine Mutter und seine Geschwister.
  "Mutter!" wollte er im Bewußtsein seines Glückes rufen, aber das Wort, das süße Wort, der Name, der sein Herz mit Wonne erfüllte, erstarb ihm in der Kehle ...
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  Moritz Barach 1818 - 1888
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