Eine Weihnachtsgeschichte ( 2 )
Die zum Teil schon erwachsenen
Mädchen wurden vollgestopft mit allerhand Kenntnissen und Wissenschaften,
vor allem mit Zeichnen, Malen, Musik, Französisch und Italienisch. Von dem
einen aber, was Not tut, wurde ihnen wenig gesagt, und das wenige in trockener,
mechanischer Weise, ohne Lebenskraft und Lebenswärme. Die Vorsteherin,
eine wohlwollende, feingebildete Frau, war allerdings kirchlich gesinnt, aber
von einer Gebets -und Lebensgemeinschaft mit dem Herrn schien sie nichts zu
wissen. Ich dagegen wollte ihm ja so gern angehören, doch wurde mir's
schwer, bei dem unruhevollen, oberflächlichen Leben still und
unverrückt mich an ihn zu halten.
Das Weihnachtsfest war herangekommen. die Pensionärinnen reisten für
die Ferien ins Elternhaus. Mir war es als eine besondere Vergünstigung
gestattet, während derselben in der Anstalt zu bleiben. Die Vorsteherin
hatte für den ersten Weihnachtstag die Einladung einer befreundeten
Familie in Syddenham, einer der zahllosen Vorstädte Londons, angenommen
und gedachte schon am 24. früh dorthin aufzubrechen, obgleich dem lieben
heiligen Abend nicht sein Recht ward. Nach der kirchlichen nimmt bei der
häuslichen Feier das Mittagessen am ersten Festtage entschieden den
Hauptrang ein. Bei demselben dürfen in den einigermaßen wohlhabenden
Ständen weder der Truthahn noch der Plumpudding fehlen.
Ich hatte zwar auch Bekannte in London - eine Familie, an die ich einen
Empfehlungsbrief gebracht, und die mich seither häufig in ihr liebes,
frommes, gastliches Haus aufgenommen. Es war die Familie des Bankiers Pfeiffer.
Vater und Sohn waren im Geschäft tätig; die Mutter waltete - eine
echte, deutsche Hausfrau - still und umsichtig im Hause, suchte aber auch
außerhalb desselben Armut und Elend zu lindern, soviel sie vermochte.
Eine Einladung aber zum Weihnachtsfest, auf die ich eigentlich sehnlich
gehofft, war nicht erfolgt. Dachten sie meiner nicht in ihrer Feststimmung?
Der 24. brach trübe und neblig an. Schnee war nicht gefallen. Ich las in
meinem Stübchen am offenen Fenster und zeichnete. Ein gutes Feuer brannte
im Kamin. Ich fühlte mich unaussprechlich einsam! Wollte denn kein
Weihnachtsglanz für mich leuchten, keine Weihnachtsfreude mein Herz
erwärmen? Da klopfte es. Die Vorsteherin trat ein und fragte, ob ich nicht
Lust hätte, sie bis Syddenham zu begleiten? Von Brixton, wo unser
Pensionat lag, konnten wir's in wenigen Minuten mit der Bahn erreichen. Sie
schlug mir vor, ein paar Stunden in den Syddenham - Kristallpalast zu gehen,
den ich oft und gern zu besuchen pflegte. Nun, für den Weihnachtstag
hätte ich mir allerdings eine andere Freude gewünscht, aber ich
willigte ein, da Miss Salmon meine Begleitung zu wünschen schien.
Es ist ein herrliches Gebäude, dieser Kristallpalast! So vollendet und
groß steht er da - mehr wie eine Schöpfung aus der Märchenwelt,
als ein mühevolles Machwerk von Menschenhänden. Zu einer
früheren Londoner Industrie - Ausstellung erbaut - ganz aus Glas
ausgeführt, nur das Gerippe von Eisen - ist er jetzt zu eine Art Museum
umgestaltet.
Langsam schlenderte ich durch die weiten Hallen. - Hier die schönsten
einheimischen und ausländischen Gewächse, zwischen denen schillernde,
prachtvoll gefärbte sowohl, als auch sangreiche Vögel umherflattern.
Gruppen von ausgestopften Tieren (Dromedare, Gazellen usw.) und Menschen aus
allen Zonen, denen man's wahrlich nicht ansieht, dass sie nur aus Holz
gearbeitet sind, so natürlich sind ihre Stellungen, so ausdrucksvoll ihre
Gesichter. Für ein paar Augenblicke glaubt sich der Beschauer in ferne
Länder versetzt, die sein Fuß nie betrat.
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Dora Schlatter 1855 - 1915
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