Eine Weihnachtsgeschichte ( 4 )
"Ich möchte es schon einmal besuchen", sprach Richard, indem er
sich in den stillen Hallen umschaute, "jenes Land mit seinen Zedern - und
Palmenhainen, seinen endlosen Wüsten und seiner üppigen
Fruchtbarkeit, seinen mächtigen Katarakten, seinen stillen
Stromtälern, seinen Pyramiden und seinen Mumien! Nicht nur allein!" -
Ich begegnete seinem Auge, das fragend auf mir ruhte. Er ergriff meine Hand und
sagte, dass er mich lieb habe, und ob ich sein Weib werden und mit ihm nicht
etwa nur eine Reise nach Ägypten, sondern die ganze Lebensreise zusammen
machen wolle. Das war euer Onkel Richard, Kinder, und durch ihn hat der liebe
Gott meine Armut reich und mein Leben köstlich gemacht.
An jenem Abend standen wir als glückliches Brautpaar unter dem Christbaum.
Als wir am andern Morgen zur Kirche gingen, klang's in meinem Herzen: O du
fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!"
Die Mutter, die leise eingetreten war, hat schon ein Weilchen neben der Tante
gestanden. "Es ist alles bereit!" sagt sie und nickt den Kindern
freundlich zu. Der Vater tritt jetzt ein und liest die Weihnachtsbotschaft,
durch die ein Jahr nach dem andern und ein Jahrhundert nach dem andern den
Menschenkindern große Freude bereitet wird. Dann stimmt die ganze Familie
den Lobgesang an: "Vom Himmel hoch da komm ich her!" Die Tante
begleitet auf dem Klavier. Und das Glück der Jahre, die vorüber sind
- und die Weihnachtsfreude der Gegenwart - und die Hoffnung auf den Tag, wo der
Weihnachtssegen: "Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den
Menschen ein Wohlgefallen!" erst in seine volle Kraft treten wird - das
alles hat ihr noch immer schönes Antlitz mit hellem Schimmer
übergossen. Während der zwei letzten Verse ist der Vater leise
hinausgegangen. Nun öffnet sich die Tür des andern Zimmers:
Weihnachtsglanz! Weihnachtsfreude! Weihnachtsjubel!
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Dora Schlatter 1855 - 1915
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