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  Linnäa ( 1 )
  Es war Weihnachten, und die Schulstube im Hause des Lehrers war still geworden. Die Schüler waren fort, und alle Zeichen des Arbeitslebens waren hinausgetragen, die Schulbänke, die Tische und die Karten von den Wänden. Es war zum Weihnachtszimmer verwandelt, und nichts darin erinnerte mehr an Arbeit des Werktags. Bilder aus der biblischen Geschichte schmückten die Wände, die Fensterbretter waren voll blühender Blumen, ein altertümliches Sofa, schwere alte Mahagonitische, Lehnstühle, weiche Teppiche gaben dem Zimmer ein unbeschreiblich behagliches Aussehen. Der bunte Weihnachtsstern hing von der Decke herab, an der einen Wand stand der Weihnachtsbaum mit purpurnen Äpfeln und vergoldeten Nüssen geschmückt. Das ganz Zimmer war erfüllt von Sonne und Festglanz.
  Und nun trugen wir sie herein, unsere geliebte Kranke, die älteste Tochter des Hauses, und betteten sie auf ihr Lager, dem Weihnachtsbaum gegenüber.
  Seit dem Herbst lag sie an einer schweren Krankheit danieder. Ich hatte sie vom ersten Tage an gepflegt. Tag und Nacht bis zu dieser Stunde war ich kaum von ihrer Seite gewichen. Ich hatte um ihr Leben gesungen mit der ganzen Kraft der Verzweiflung meiner jungen Jahre, ich hatte dem Tod meine junge Kraft, meinen trotzigen Willen zum Leben entgegengestellt.
  "Sie darf nicht sterben, sie wird nicht sterben!" sagte ich den verzagenden Eltern Tag für Tag. Und ich riss sie mit mir fort, dass sie mit mir an ein Wunder glaubten. Und das Wunder war geschehen, der Arzt erklärte sie für gerettet. Nun lag sie in ihren weißen Kissen, schön und durchsichtig blass, als gehöre sie nicht mehr in diese Welt. Sie sah zum erstenmal seit Monaten einen anderen Raum als ihr Krankenzimmer, und ihre wunderbaren dunklen Augen sahen träumend in das festliche Licht um sie. Die Herrlichkeit eines nordischen Wintertags mit dichtem, funkelndem Schnee schaute aus dem Garten in die Fenster.
  Sie lag ganz still, ich saß auf einem Bänkchen zu den Füßen ihres Bettes und blickte auf sie. So hatte ich gesessen, Tage und Nächte, und hatte ihre Leiden mit ihr gelitten bis in alle Tiefen meiner jungen stürmischen Seele. Nun hob sie die Hände und hielt sie in die Sonne; es waren seltsame Hände, wie man sie nur auf alten italienischen Bildern sieht, lang und schmal, mit spitzen Fingern. Hände, "die nicht gelebt", die nur geträumt und gelitten hatten. In den schwersten Leidenstagen konnte ich sie nicht ansehen, alle Qualen ihres Leibes, alle Leiden ihrer Seele las ich in diesen Händen.
  Zwei kleine zahme Vögel flogen im sonnigen Zimmer umher - es waren Meisen, die sich auf den Ästen des Tannenbaumes schaukelten, die goldenen Nüsse schlugen mit leise klirrendem Ton aneinander. Nun breitete der eine Vogel seine Schwingen aus, umkreiste das Bett der Kranken und ließ sich auf ihren blassen Händen nieder. Sie hielt ganz still, der Vogel erhob sein Stimmchen und sang leise und süß. Dann erschrak er und flog wieder fort, und da lachte sie; es war ein Lachen ebenso leise und süß wie das Singen des Vogels. Ich hatte sie nie lachen gehört, seitdem sie krank war. Die leise Vogelstimme und das leise süße Lachen erinnerten beide an Jugend, Gesundheit, Leben und Auferstehen.
  "Du wirst leben!" sagte ich, überwältigt von Glück, und die Tränen flossen mir über die Wangen. Sie schwieg, sie war sehr still auch in gesunden Tagen.
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  Monika Hunnius 1858 - 1934
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