Linnäa ( 2 )
Wir nannten sie "Linnäa", denn sie
erinnerte in ihrer ganzen Art an diese Blume, die linnäa borealis, die
Sommer in den Dünen blühte. Es war ihre Lieblingsblume, sie hatte
blassrosa Glöckchen, die sich bei jedem Windhauch bewegten und einen
süßen Duft nach bitteren Mandeln ausströmten , zart und scheu.
Unsere Linnäa lebte schwer, ihre Seele war für das Vollkommene
geschaffen, und der Erdenstaub bedrückte ihre feine Blüte. Sie war
eine Einsame, zu zart für das Leben; auch wenn sie fröhlich mit uns
war, lag immer etwas von Schwermut und Einsamkeit über ihr. Ich glaube,
ganz hat sie nie ein Mensch auf Erden verstanden.
"Ich muss dir etwas sagen", sagte sie mit ihrer leisen, bedeckten
Stimme, "du darfst aber nicht weinen, das würde mir zu weh tun. Dies
ist mein letztes Weihnachtsfest auf Erden." Ich fuhr empor: "Du wirst
leben!" sagte ich außer mir, "denn ich kann nicht leben ohne
dich."
Sie war ebenso jung wie ich, aber mir weit voraus, durch Leiden gereift.
"Du wirst es lernen", sagte sie still, "und nicht nur dieses,
sondern noch viel Schwereres. Ich aber habe keine Kraft mehr zum Leben; das
Leben ist auch zu schwer durch die Sünde, die auf Erden herrscht. Hilf du
meinen Eltern, denn du bist jung und stark."
Wo war die Sonne die das Zimmer erfüllte? Wo war die Weihnachtsfreude? Das
Zimmer war voll grauer Schatten, die Sonne war tot, und auch meine
Weihnachtsfreude war gestorben. Da ging die Tür auf, und ihr Vater trat
ein. Er war Lehrer, ein stiller, sanfter Mann mit einem Gesicht voller Frieden.
Er sah schön aus mit seinen schneeweißen Locken, den ernsten dunklen
Augen und dem edlen, bartlosen Gesicht. Er ging immer ein wenig gebückt,
seine Bewegungen waren leise und ruhig, eine merkwürdige Reinheit und
Weltfremdheit lag über seinem ganzen Wesen. Er liebte nichts auf Erden so
sehr wie die Tochter; mit der ganzen stillen Innigkeit seiner Seele hing er an
ihr. Er beugte sich über die Kranke und legte seine Hand auf die ihre.
"Ich komme eben von draußen, aus der Stadt", sagte er,
"alles ist so voll Weihnachtsfreude. Überall werden Tannenbäume
durch die Straßen getragen; um die Weihnachtbuden drängen sich die
Menschen. Wie schön ist das Fest, und du lebst, und das ist doch unser
schönstes Weihnachtsgeschenk." Sie lächelte zum Vater empor.
"Ich freue mich", sagte sie leise und strich mit der Hand sanft
über die seine.
Als das nächste Weihnachtsfest herankam, lag sie auf dem Friedhof, neben
ihr der Vater; er hatte ihren Tod nicht überlebt, wenige Tage nach ihr
durfte er sterben. Dichter Schnee deckte nun ihre beiden Hügel zu, und ich
lernte noch immer an der Aufgabe, zu leben ohne sie.
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Monika Hunnius 1858 - 1934
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