Eine Verlassene ( 2 )
Da schleudert sie mit einer wilden Bewegung seine Hand zu Seite und
schlägt die dürren Hände vors Gesicht: "Es ist nicht
wahr", schreit sie, "zu mir kommt niemand, nicht einmal der Tod. Was
mache ich mit dem Christuskind, ich brauche den Tod, aber Gott hat mich
vergessen!"
"Er hat Sie nicht vergessen!" Wie ein Jubel klang es aus der hellen
Stimme. "Gerade für Sie, weil sie so einsam und alt sind, gelten die
schönsten Verheißungen."
"Aber warum muss ich denn noch auf der Erde leben?" jammert die alte
Stimme.
"Das weiß ich nicht", antwortete die junge, "das
weiß nur Gott, aber vielleicht sollen Sie noch Geduld lernen, vielleicht
Gehorsam. Wollen wir Gott bitten, dass er Sie das lehrt, was sie noch lernen
sollen, und dass er sie dann heimgehen lässt in Frieden."
Und er kniet nieder vor dem Bett der Alten, in all dem Schmutz, in all der
Düsterheit hebt er sein helles Jünglingsgesicht empor und betet wie
ein Kind.
Ich werde dieses Gebet nie vergessen. Ich hatte die Empfindung, als stiege es
in seiner Einfachheit vor Gottes Thron. Und dann sangen wir: "O du
fröhliche, o du selige". Ach, hätte die arme, gefangene Seele
doch in diesem Augenblick ihre Flügel heben und heim fliegen dürfen!
Die Kranke weint. Man hatte das Gefühl, als müsse sie sterben in
diesen Tränen. Wir legen ihr die mitgebrachten Sachen aufs Bett, dann
nehmen wir Abschied. Als der Kandidat ihr die Hand gibt, will sie sie
küssen, erschrocken wehrt er ab.
Aufatmend stehen wir draußen unter dem dunklen Schneehimmel, keines wagt
etwas zu reden. In tiefen Gedanken, schweigend, fahren wir heim.
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Monika Hunnius 1858 - 1934
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