Weihnachten in der Speisekammer ( 1 )
Unter der Türschwelle war ein kleines Loch. Dahinter saß die Maus
Kiek und wartete.
Sie wartete bis der Hausherr die Stiefel aus- und die Uhr aufgezogen hatte; sie
wartete, bis die Mutter ihr Schlüsselkörbchen auf den Nachttisch
gestellt und die schlafenden Kinder noch einmal zugedeckt hatte; sie wartete
auch noch, als alles dunkel war und tiefe Stille im Hause herrschte. Dann ging
sie.
Bald wurde es in der Speisekammer lebendig. Kiek hatte die ganz
Mäusefamilie benachrichtigt. Da kam Miek die Mäusemutter mit den
fünf Kleinen, und Onkel Grisegrau und Tante Fellchen stellten sich auch
ein.
"Frauchen, hier ist etwas Weiches, Süßes," sagte Kiek
leise vom obersten Brett herunter zu Miek, "das ist etwas für die
Kinder," und er teilte von den Mohnpielen aus. "Komm hierher
Grisegrau," piepste Fellchen, und guckte hinter der Mehltonne vor,
"hier gibt's Gänsebraten, vorzüglich, sag ich dir, die reine
Hafermast; wie Nuss knuspert sich's." Grisegrau aber saß in der
neuen Kiste in der Ecke, knabberte am Pfefferkuchen und ließ sich nicht
stören. Die Mäusekinder balgten sich im Sandkasten und kriegten
Mohnpielen. "Papa," sagte das größte, "meine
Zähne sind schon scharf genug, ich möchte lieber knabbern, knabbern
hört sich so hübsch an." "Ja, ja, wir wollen auch lieber
knabbern," sagte alle Mäusekinder, "Mohnpielen sind uns zu
matschig," und bald hörte man sie am Gänsebraten und am
Pfefferkuchen. "Verderbt euch nicht den Magen," rief Fellchen, die
Angst hatte, selber nicht genug zu kriegen, "an einem verdorbenen Magen
kann man sterben." Die kleinen Mäuse sahen ihre Tante erschrocken an;
sterben wollte sie ganz und gar nicht, das musste schrecklich sein. Vater Kiek
beruhigte sie und erzählte ihnen von Gottlieb und Lenchen, die drinnen in
ihren Betten lägen und ein hölzernes Pferdchen und eine Puppe im Arm
hätten; und dass in der großen Stube ein mächtiger Baum
stände mit Lichtern und buntem Flimmerstaat, und das es in der ganzen
Wohnung herrlich nach frischem Kuchen röche, der aber im Glasschrank
stände, und an den man nicht heran könnte. "Ach," sagte
Fellchen, "erzähle nicht so viel, lass die Kinder lieber essen."
Die aber lachten die Tante mit dem dicken Bauch aus und wollte noch viel mehr
wissen, mehr als der gute Kiek selbst wusste. Zuletzt bestanden sie darauf,
auch einen Weihnachtsbaum zu haben, und die zärtlichen Mäuseeltern
liefen wirklich in die Küche und zerrten einen Ast herbei, der von dem
großen Tannenbaum abgeschnitten war. Das gab einen Hauptspaß. die
Mäusekinder quiekten vor entzücken und fingen an, an dem grünen
Tannenholz zu knabbern; das schmeckte aber abscheulich nach Terpentin, und sie
ließen es sein und kletterten lieber in dem Ast umher. Schließlich
machten sie die ganze Speisekammer zu ihrem Sielplatz. Sie huschten hierhin und
dorthin, machten Männchen, lugten neugierig über die Bretter in alle
Winkel hinein, und spielten Versteck hinter den Gemüsebüchsen und
Einmachtöpfen; was sollten sie auch mit dem dummen Weihnachtsbaum, an dem
es nichts zu essen gab! Als aber das kleinste ins Pflaumenmus gefallen war und
von Mama Miek und Onkel Grisegrau abgeleckt werden musste, wurde ihnen das
Umhertollen untersagt, und sie mussten wieder artig am Pfefferkuchen knabbern.
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Paula Dehmel, 1862 - 1918
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