Die Geschichte vom Kräutchen Eigensinn ( 1 )
Der kleine Georg war trotz der schönen Erzählungen der Tante beim
Schlafengehen sehr unartig und sehr eigensinnig gewesen, da sagte ihm die Mama:
"Nimm Dich nur in Acht, sonst bringt Dir der Nikolaus zu Weihnachten eine
Rute vom Kräutchen Eigensinn!"
Als nun die Kinder am andern Abend wieder bei der Tante saßen, da sagte
Mathildchen: "Liebe Tante, erkläre mir doch, was eine Rute vom
Kräutchen Eigensinn ist." Der Georg saß bei dieser Frage
mäuschenstill und guckte mit den großen, blauen Augen auf seine
Schuhe, als ob er sie noch nie gesehen hätte, die Tante aber antwortete:
"Das sind die allergefährlichsten Ruten, die es gibt, um die darf das
gute Christkind keine roten Bänder und kein Flittergold wickeln und die
werden auch nicht bloß zum Schmuck und zur Warnung hinter den Spiegel
gesteckt, sondern mit denen gibt es wirkliche Hiebe und woher sie kommen, das
will ich Euch jetzt ganz genau erzählen:
Am Rand einer großen, grünen Wiese stand ein hübscher, kleiner
Strauch, der hatte schlanke Zweige, grüne Blätter und schöne
weiße Blüten, so dass er gar lieblich anzusehen war - aber, es war
ein schlimmes Kraut. Es wollte immer etwas Anders tun, als es gerade sollte,
sagte zu allen Dingen: "Nein!" statt: "Ja!" und die Blumen
und Sträucher auf der wiese nannten es nur noch: "das Kräutchen
Eigensinn."
Wenn ein Bienchen geflogen kam und in den Kelch seiner Blüten
schlüpfen wollte, um sich Honig zu sammeln, dann schloss er schnell die
Blüten fest zu. Summte und brummte das fleißige Tierchen auch noch
so eifrig: "Mach' auf! mach auf!" so rief das Kraut doch immerfort:
"Ich will nicht, ich mag nicht, ich tu's nicht!" bis das Bienchen
ganz zornig davon flog und nie mehr wieder kam.
Ein andermal kam ein liebes, kleines Mädchen daherspaziert, das
pflückte sich einen Strauß und wollte auch ein Zweiglein von dem
schönen, grünen Strauche dazu nehmen. Aber Kräutchen Eigensinn
bog sich herüber und hinüber, wand sich hin und her und wollte nichts
geben. - "Ei, Kräutchen Eigensinn", sagte seine Nachbarin, ein
kleines Heckenrösschen, "so gib doch dem lieben Kinde nur ein kleines
Zweiglein!"
"Ich mag nicht, ich will nicht!" rief es dagegen, und ließ sich
jetzt erst recht nichts nehmen.
Die gute Sonne hatte von dem blauen Himmel herab Alles mit angesehen und ward
bitterböse; sie rief herunter: "Du hässliches Ding, willst Du
denn gar nie mehr lieb und artig sein? Ich scheine so gern herab auf alle die
lieben Blumen und Sträucher, aber Dir möchte ich auch nicht einen
Strahl mehr senden!"
"Nein! denn ich will unartig sein! ich darf unartig sein!" rief das
Kräutchen Eigensinn hinauf, "und willst Du nicht auf mich scheinen,
so kannst Du es bleiben lassen!"
Das war doch gewiss entsetzlich ungezogen von dem Kräutchen Eigensinn, die
Sonne wandte ihr freundliches Gesicht schweigend von ihm ab, die Blumen und
Gräser sprachen kein Wort mehr mit ihm und die Bienchen und Schmetterlinge
flogen Alle an ihm vorüber, denn Keines wollte noch etwas von ihm wissen.
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Luise Büchner 1821 - 1877
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