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  Die Legende von dem Zaunkönig und der Zaunkönigin ( 2 )
  Aber o weh, es geht nicht, die sonst so liebreiche Kehle ist wie eingerostet. Sie sind ja nur Sommermusikanten; doch der Zaunkönig, der winzige, unscheinbare Zaunkönig, hat etwas vorab. Der singt im Winter schier noch schöner als im Sommer."
  "Warum, warum, Großmutter?" riefen die Kinder erwartungsvoll.
  Großmutter lächelte geheimnisvoll. "Das hängt mit Zaunkönigs Weihnachten zusammen, und gerade davon wollte ich euch erzählen. Es ist eine ganz sonderbare Geschichte, aus der wir Menschenkinder auch etwas lernen können."
  Großmutter setzte sich im Sessel zurecht, und die Kinder rückten ganz dicht an sie heran, um vor allem kein Wörtchen zu verlieren. O wie herrlich war es doch in Großmutters Stübchen! Im Ofen knisterte das Feuer, und draußen strich der eiskalte Nordwind um das Haus. Vom Ofen wehte der Duft der bratenden Äpfel herüber, und der erfinderische Karl hatte zudem Tannenzweiglein ins Feuer gelegt. Er behauptet, das gäbe "Weihnachtsgeruch", und der darf doch nicht fehlen, wenn kurz vor diesem hohen Feste Großmutter eine Weihnachtsgeschichte erzählt.
  Und Großmutter begann:
  "Nicht immer war der Zaunkönig so geachtet und ein so lustiges Vöglein wie heutzutage; es gab eine Zeit, da schauten ihn die vornehmeren Vögel nur über die Schulter an und wollten ihn in ihrer Gesellschaft durchaus nicht zulassen. "Lieber Himmel", sagte Frau Amsel, "ich bin ja auch nicht gerade für Farbenpracht, sondern trage jahraus, jahrein mein einfaches, schwarzes Kleid, aber ich habe doch wenigstens Stimme. Etwas muss der Vogel haben, das ihn schmückt."
  "Ganz meine Meinung, Frau Gevatterin", schmetterte der Stieglitz. "Mit meiner Stimme kann ich nun gerade nicht prahlen, aber dafür trage ich den schönsten Rock auf zehn Meilen in der Runde. - Und der Zaunkönig hat nichts, rein gar nichts, - nicht Stimme, kein schönes Kleid, an dem hat unser lieber Herrgott im Himmel schwerlich Freude."
  Das war hart geurteilt, und Zaunkönig und Zaunkönigin empfanden es bitter. Denn sie waren recht fromme Vögelchen, die morgens und abends ihr Gotteslob piepten, so gut es eben gehen mochte. So schön wie heute klang ihr Lied damals freilich noch nicht.
  Nun begab es sich in einer schönen, klaren Winternacht, dass die Zaunkönigin, die mit ihrem Zaunkönig einen armseligen Stall bewohnte, von einem seltsamen Geräusch aufgeweckt wurde. Als sie nun zwinkernd die Augen öffnete, erschrak sie heftig vor dem herrlichen, rosaroten Glanz, der den Stall erfüllte. Und mitten in dem Glanze stand ein wunderbares Wesen in lang herabwallendem weißen Kleide; auf seiner hohen Stirne trug es eine Krone, die beinahe noch prächtiger war als diejenige des Königs Herodes, welcher damals in Zaunkönigs Vaterland auf dem Throne saß. Die Zaunkönigin zitterte vor Freude und Schrecken; denn das wunderbare Wesen musste ein Engel sein, ein wahrhaftiger Engel, der gerade vom Himmel herabgekommen war. Er schritt nicht über die Erde wie wir Menschenkinder, sondern schwebte durch die Luft mit lindem Flügelschlag. Und fliegen können doch sonst nur die Vögelein.
  Lieber Gott, was hat ein Engel in solch einem armseligen Stalle zu suchen? Die Zaunkönigin wusste sich nicht mehr zu helfen. Sie stieß den Gemahl mit den Flüglein an und flüsterte: "Wache auf, Zaun, wache auf! Jetzt ist nicht mehr Zeit zum Schlafen, wunderbare Dinge tragen sich zu."
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  Hedwig Dransfeld 1871 - 1925
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